Sie nannten es Arbeit. Eine Handreichung zu drei Informationsgesellschaftstheorien.
Rezension zu
Jochen Steinbicker (2011) Zur Theorie der Informationsgesellschaft. Ein Vergleich der Ansätze von Peter Drucker, Daniel Bell und Manuel Castells. 2. Auflage Wiesbaden: VS Verlag. ISBN: 978-3-531-18054-0 29,95 Euro (Seite zum Titel beim Verlag)
von Ben Kaden
I
Wer in den ausklingenden 1990er und beginnenden 2000er Jahren in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft über den Tellerrand hinaus sah und sich fragte, in welcher Gesellschaft er sich befindet, der blickte zwangsläufig in eine halb gegenwärtige, halb zukünftige Lebenswelt namens Informationsgesellschaft. Über diesem bereits an sich schillernden Begriff standen als besonders strahlende Leitgestirne die Beschreibungen von Daniel Bell (postindustrielle Gesellschaft) , Peter Drucker (Wissensgesellschaft) und Manuel Castells (informationelle Gesellschaft, Informationalismus). Allen drei Protagonisten beschäftigte, ungeachtet der Variation in der Benennung, die Transformation einerseits der ökonomischen und andererseits in dieser Folge auch der sonstigen Bereiche der Gesellschaft.
Grundlage der Entwicklung war eine Verschiebung im Bereich der Produktivkräfte (ein Ausdruck, der seinen Zenit etwa 1975 hatte und mittlerweile auch schon Staub trägt). Für die Wertschöpfung waren nun nicht mehr physische Arbeit (mitsamt der Körper, die diese verrichten mussten) und Land und nicht mehr nur Kapital, Maschinen und Energie notwendig. Entscheidend waren mehr oder minder plötzlich Wissen, Innovationsgeist, Wagnis und – wie das Beispiel der New Economy zeigt – auch Einiges an Chuzpe, Glück und richtigen persönlichen Kontakten.
Parallel dazu erkannte man, dass sich die bis dato weitgehend vorwiegend unter kulturellen bzw. sozialen Aspekten zu verortenden Phänomene Information und Kommunikation nicht nur nachrichtentechnisch in mathematische Fassungen bringen lassen, sondern generell als Waren begriffen werden und daher auch ihre Erzeugung, Verbreitung und Nutzung nach Marktmechanismen strukturiert werden können. Mit den entwickelten Formen der Informations- und Kommunikationstechnologie standen Kanäle und Werkzeuge zur Verfügung, die nahezu beliebige Quantitäten von Nachrichten bei zugleich relativ guter Kontrollmöglichkeit übertragbar machten. Die Totalisierung dieses Prinzips, dass wir mit dem Zeitalter des Smartphones und der digitalen sozialen Netzwerken bis in den kleinsten interpersonellen Austausch hinein erfahren, ist nicht nur direkte Nachwirkung dieses Gedankens, sondern zugleich Auslöser der Frage, in welche Richtung dieser Zug nun weiter rollt.
II
Möglicherweise ist die Wissensökonomie, bei der es um Individualwissen geht, schon längst wieder im Abschwung. Die Theorien der Informationsgesellschaft und deren Hauptvertreter, von denen zwei bereits verstorben sind, hinterließen dafür keine Orientierung. Ihre Arbeiten bieten tatsächlich Erklärungsmuster, die die Entwicklung bis circa in den frühen 2000er Jahre noch halbwegs begreifbar machen.
Das Gewicht ihrer Theorien liegt entsprechend noch auf dem Faktor Wissen, hier synonym mit Intelligenz und schneller Reaktionsfähigkeit bzw. Entscheidungsfreude zu verstehen. Zauderer hätten kein Google gebaut und der alte Industrieadel wäre an den frühen Bilanzen (ca. die ersten 15 Jahre) von Amazon zutiefst verzweifelt. Dennoch hat sich das Digitale in Form von Leit- und Steuertechnologie auch in den urständigsten Schwerindustrien durchgesetzt. Wer es nicht glaubt, den überzeugt jede beliebige Führung in einem gläsernen Stahlwerk oder eine anderen Art von (ehemaliger) Manufaktur in der Regel ziemlich schnell. Dass Bildung im Sinne von einer Verständnis- und Bedienkompetenz für entsprechende Steuermedien an vielen Stellen über Körperkraft geht, versteht sich von selbst. Ein bitteres Erwachen jenseits idyllischer Illusionen über das Emanzipationspotential einer digital basierten Kommunikationsgesellschaft spielte für die drei Leitbildbildner noch kaum eine Rolle. Die Entkleidung von Konzepten wie Bildung und Wissen auf ihren Verwertungskern scheint jedoch, wie wir heute leicht erkennen, ein logischer und unvermeidbarer Bestandteil der Entwicklung zu sein.
Wir sehen es jeden Tag: Bildung, auch universitär, besitzt auch in der universitären Praxis nur noch sehr geringe Schnittmengen mit aufklärerischen Vorstellungen und sehr große mit Fragen der Tauglichkeit für einen Arbeitsmarkt, in dem Wissen einzig dann wichtig ist, wenn es dem jeweiligen Funktionskontext nutzt bzw. sich jemand findet, um dafür etwas zu bezahlen. Der Wissensarbeiter – den beispielsweise Peter Drucker eher abstrakt beschrieb – ist zumeist tatsächlich nur Wissensproletarier (oder, vgl. S. 47, “Nachfahre des Facharbeiters”). Daniel Bells Vorstellung einer Wissenselite bleibt ebenfalls eher unterbestimmt und die Idee einer Verlagerung von Macht und Kontrolle weg vom Markt ist, wie auch Jochen Steinbicker betont, je nach Sichtweise entweder widerlegt oder noch auf dem Weg zu einem Ort, an dem sie sich einlösen kann.
III
Der Soziologe Jochen Steinbicker bündelt also in seinem Überblicksbuch die am Ende doch ähnlichen Konzeptlinien des großen Vordenkertrios unserer (ökonomischen) Gegenwart, heuer in der zweiten Auflage, zusammen und macht somit die “Pfade zur Informationsgesellschaft” (so der Titel eines weiteren Buches, das er ebenfalls 2011 allerdings beim Velbrück Wissenschaftsverlag publizierte) aus diesen drei Perspektiven recht übersichtlich nachvollziehbar. Die Abhandlung eignet sich freilich mehr als Handreichung denn als Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs, obschon die jeweilige Kritik der Ansätze eine gute Basis für Folgediskussionen böte, lägen die Defizite aller drei Versuche, die kommende bzw. seiende Gesellschaft zu bestimmen, nicht bereits derart offen auf der Hand.
Letztlich sind die referierten Theorierahmen von Bell, Castells und Drucker im Jahr 2013 über weite Strecken hauptsächlich aus historischer Sicht interessant. Im Jahr der Erstauflage des Bandes – 2001 – stellte sich die Situation noch anders dar (und das Buch selbst war, das nebenbei vermerkt, auch noch zum halben Preis zu haben – eine auch wissensökonomischer Sicht erstaunliche Kopplung von Halbwertszeit des Wissens und dem dafür geforderten Preis).
Zum Ausstieg argumentiert Jochen Steinbicker erwartungsgemäß resolut gegen eine techno-determinstische Entwicklung. Stattdessen plädiert er für die “Identifizierung verschiedener Typen von Informationsgesellschaften ” (S.125) als Startpunkt eines kritisch-reflexiven Hinterfragens. Beispielsweise der in der Tat bisweilen dreist von den prominenten Monomaniacs (Wortschöpfung von Peter Drucker) als unveränderlich verkauften Entwicklung, die freilich oft mit dem Verkauf einer jeweiligen Produktidee korreliert und mitunter die Verbindung zur Theorie eines viel älteren Vordenkers aus der Republik Florenz nahelegt.
Die vier Beobachtungsebenen, die sich für Anschlussuntersuchungen anbieten:
- These des Strukturwandels der Arbeit;
- These der Spaltung zwischen hochqualifizierten Wissensarbeitern und geringqualifizierten Dienstleistungsangestellten (dieses Neoproletariat wurde freilich bereits von Walter Benjamin thematisiert);
- Verhältnis von Wissensarbeit und Organisation inklusive Verschiebungen im Verhältnis Hierarchie und Kontrolle;
- Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung des Strukturwandels der Arbeit (vgl. Steinbicker, S. 123)
bleiben zweifellos zeitfeste Plateaus intellektueller Deutungsarbeit und dies idealerweise auch für die Bibliotheks- und mehr noch Dokumentations- als Informationswissenschaft. Denn die Frage, wohin die Profession steuert, ist dauerhaft offen. Bibliothekare und Dokumentare (besonders letztere) standen gewissermaßen lange durchaus für eine Art Avantgarde der Wissensverarbeitung, die nun in der Informations- und Wissensgesellschaft vom Hauptfeld der Beschäftigungswelt einge- und manchmal überholt wurde. Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sieht sich so mit einem mächtig erweiterten Gegegenstandsbereich konfrontiert und obwohl die Vorhersagen von Daniel Bell auf die 1960er rückdatieren und die Bücher frühzeitig auch in deutscher Übersetzung vorlagen, zeigte sie sich lange nicht sonderlich für diese Transformation gewappnet.
IV
Kurioserweise musste man auch in ihr ausgerechnet lange um das ringen, was Jochen Steinbicker als “dritten Weg zwischen der pauschalen Ablehnung […] und der unkritischen Zustimmung” einfordert. (S. 125) Früher nannte man das ein vernünftiges Gleichgewicht. Die stattdessen in dem Feld lautstärker wahrnehmbaren Extrempositionen wie a) Treue zu anachronistischen Prinzipien oder b) servile Anpassung an den Zeitgeist treten, wie jeder weiß, immer besonders gern in Situationen der Unsicherheit auf. Dass die Veränderung der Beschäftigungswelt mit gegenläufigen Trends einerseits der Ausweitung der lebensweltlichen Bedeutung des Arbeitsverhältnisses (vermittelt durch das Medium Geld) und andererseits die weitreichende Flexibilisierung und potentielle Prekarisierung der Arbeitswelten, wie wir es seit 2000er Jahren in größter Entfaltung erleben, zu Verunsicherung führt, erstaunt freilich ebenso wenig wie die Tatsache, dass weder Bell noch Drucker noch Drucker in ihren Makroentwürfen sonderlich über die sozialpsychologischen Folgen der von ihnen beschriebenen neuen Gesellschaften reflektierten.
Vielmehr liest es sich so:
“Alle Konsumfreuden, wie ein Buch lesen, sich mit einem Freund unterhalten, eine Tasse Kaffee trinken, ins Ausland reisen, erfordern Zeit. Deshalb verfügen auch die Bewohner “rückständiger Länder”, die sich nicht so viele Dinge leisten können, über mehr Zeit. Besitzt jemand hingegen ein Segelboot, einen Rennwagen oder ein Konzertabonnement, ist “Freizeit” sein knappstes Gut. Will er z.B. ins Konzert, muß er entweder sein Abendessen hinunterschlingen […] oder hinterher essen, was wiederum bedeuten kann, daß er zu lange aufbleibt und nicht genügend Schlaf hat, will er am nächsten Tag “pünktlich” zur Arbeit erscheinen.” – Daniel Bell (1979): Die nachindustrielle Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 349
Das mag für irgendeine Welt korrekt sein. Aber wer heute als Wissensdienstleister zu arbeiten beginnt oder, vom Bildungsabschluss zur Wissenselite zählend, versucht im deutschen Universitätssystem Fuß zu fassen, merkt spätestens beim Blick auf seine Rentenprognose, dass ein Segelboot oder ein Rennwagen vermutlich nicht zum engsten Kreis der Probleme zählen werden. Die Frage nach der Aktualität und Aktualisierbarkeit der Arbeiten der großen Drei stellt sich so bei der Lektüre der Originaltexte nicht ganz selten. Sie zu kennen, schadet natürlich auch nicht.
Dass sich Jochen Steinbickers Arbeit vorwiegend an Soziologen und dabei vermutlich in der Hauptsache an SoziologiestudentInnen richtet, die das Buch zur Prüfungsvorbereitung lesen (vermutlich in der Bibliothek, denn für diesen Zweck ist die zweite Auflage schon etwas hochpreisig), braucht uns als Bibliotheks- und Informationswissenschaftler keineswegs daran hindern, einen (Rück)Blick in die Pro- und Diagnostik der drei genannten Theoretiker zu werfen. Man erfährt durchaus Wichtiges über die Wurzeln der heutigen Haupttrends vor allem der digitalen und wissensbasierten Ökonomien. Und erst deren Kenntnis ermöglicht vermutlich ein adäquates Handeln in einer äußerst widersprüchlich und unklaren gegenwärtigen Gesellschaft jenseits von Informations-, Wissens- oder Wissenschafts-Präfixen.
(Berlin, 08.03.2013)
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