Ein Leserbrief zu Sibel Ulucans Begriffsbestimmtung der „Hybride Bibliothek“ (Ausgabe 21)
Man muss es schon zugeben: Die Anzahl der Leserbriefe, die die LIBREAS-Redaktion zu den Ausgaben erreichen, hält sich bisher in einem sehr überschaubaren Rahmen. Was eigentlich schade ist. Denn wie einige Threads in der Inetbib-Liste, der populärsten deutschsprachigen Mailing-Liste unseres Feldes, zeigen, gibt es nach wie vor die Bereitschaft und das Bedürfnis, sich in einer Form auszutauschen, die in fachlichen bzw. Gelehrtenbriefwechseln ihren Ursprung hat und heute freilich, jedenfalls soweit es öffentlich wahrnehmbar ist, per E-Mail stattfindet. Für Sammler von Autografen ist das eine bedauerliche Entwicklung. Für den Diskurs kann es sehr fruchtbar sein. LIBREAS als Diskursmedium freut sich natürlich sehr über E-Mails und Leserbriefe und sofern sie uns für den Diskurs relevant genug erscheinen, publizieren wie diese sehr gern und zeitnah. Was im Gegenzug bedeutet, dass Einsender von Leserbriefen und -E-Mails immer damit rechnen müssen, dass ihre Position von uns veröffentlicht wird. Als digitale Publikation besteht für uns keine Notwendigkeit zum Kürzen. Wenn wir redaktionellen Bearbeitungsbedarf sehen, halten wir mit den Einsendenden Rücksprache. Tipp- und Flüchtigkeitsfehler korrigieren wir stillschweigend.
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LIBREAS / Maxi Kindling
Humboldt-Universität zu Berlin
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(bk / red.)
Leserbrief von Walther Umstätter vom 18.01.2013 zu Sibel Ulucan (2012): Hybride Bibliothek – eine Begriffsneubestimmung. In: LIBREAS.Library Ideas, Jg. 8, H. 2 (21).
Der Beitrag „Hybride Bibliothek – eine Begriffsneubestimmung“ von Sibel Ulucan macht deutlich, dass es um die letzte Jahrhundertwende keine gute Idee war, den Projekten der USA zur Digital Library, in Großbritannien
bzw. Europa als Pendant die Hybrid Library als Ort analoger und digitaler Medien, gegenüber zu stellen. Das eigentliche Ziel der Digitalisierung wurde nicht mehr erkennbar. Wenn die Autorin nun, einer im Bibliothekswesen seit mehr als einem Jahrzehnt gebräuchlichen Bezeichnung, eine neue Bedeutung, mit noch größeren Problemen der begrifflichen Unschärfe, geben möchte, so ist das eher verwirrend als erhellend. Schon in der Biologie wird das Wort hybrid sehr viel präziser verwendet, als es Ulucan tut. Die Feststellung „Denn die Vermischung ist das Prinzip des Lebens.“ klingt zwar einleuchtend, ist aber in dieser Einfachheit irreführend. Denn in der Biologie gibt es lang diskutierte Definitionen von Art und Rasse, die z.B. bei Reinrassigkeit bzw. Heterosis nicht immer als beliebig hybridisierbar zu bezeichnen sind, und auch „Crossover“ ist nicht nur eine einfache Kreuzung, sondern ein spezieller Fall bei Chromosomenbrüchen mit entsprechenden Konsequenzen. Also etwas, was es in Bibliotheken oder Kulturen so nicht geben kann.
Wenn alle Bibliotheken als hybrid definiert werden, weil sie Dokumente verschiedener Art oder Kulturen sammeln, wird das Wort hybrid ohnehin inhaltsleer, weil es ja keinen Unterschied zwischen Bibliothek und hybrider Bibliothek gibt.
Da ich ein Verfechter des Post Peer Reviewing bin, und es durchaus begrüßenswert finde, wenn Libreas nicht den Versuch macht Beiträge schon vor der Publikation abzulehnen, halte ich es zwar für gerechtfertigt, die Ansichten von Frau Ulucan ins Netz zu stellen, sie aber völlig unkommentiert zu lassen, dürfte es Newcomern unmöglich machen, eine ausreichend zuverlässige Begriffsbestimmung der Fachliteratur zu entnehmen.
Werter Herr Umstätter,
dieser Argumentation kann ich mich nicht wirklich anschliessen. Und zwar aus einem Grund: Mir ist nicht klar, warum der Begriff „Hybrid“ gepachtet werden könnte von einer Wissenschaftsdisziplin. Sibel Ulcan leitet den Begriff Hybrid ja aus einer anderen disziplinären Richtung her und, ungeachtet aller Diskussionen in der Biologie, wird er in den Kulturwissenschaften, der Sozialpädagogik oder den Gender Studies ebenso selbstverständlich ungefähr in einer Weise verwendet, wie ihn Ulcan verwendet. Mir wäre – als jemand der Gender Studies studiert hat, zugegebenermaßen – nicht klar, warum die Begrifflichkeit nur von der Biologie her verstanden werden dürfte. Eher denke ich, dass wir es hier mit einem klassischen Homonym-Problem zu tun haben. Eventuell wäre notwendig, die Begriffe klarer zu trennen, aber mir würde für die von Ulcan beschriebenen Fragen auch keine andere Begrifflichkeit einfallen, als hybrid.
Sehr geehrter Herr Schuldt,
Ihr Hinweis auf die Homonymität des Wortes Hybrid ist natürlich völlig richtig, weil dies ja die große Stärke unserer Sprache ist, dass Homonyme in ihrem jeweiligen Kontext unterschiedliche und auch unterschiedlich präzise Bedeutungen erhalten können. Insofern ist ein Hybrid in der Bibliothekswissenschaft, der Biologie und den Kulturwissenschaften jeweils etwas anderes. In der Bibliothekswissenschaft war es bislang ein Begriff für die europäische Digitalisierung gegenüber den Digitalisierungsprojekten in den USA. Genau das aber habe ich kritisiert, weil das Außenstehende kaum verstehen konnten, während die Digitale Bibliothek aus den USA sehr viel deutlicher machte, worum es geht. Darum haben wir in unserem Institut auch einen Lehrstuhl für Digitale Bibliothek und nicht für Hybride Bibliothek gegründet.
Nun gibt es allerdings in der Big Science noch ein neues Problem, bei dem immer wieder Modeworte, die um die Welt gehen, von unzähligen Laien übernommen werden, ohne dass diese sie verstehen. Man denke an Heisenbergs Unschärferelation, an Shannon/Weavers Information, die eigentlich aus Boltzmanns Eta-Theorem entstammt (das nicht jedermann kennt, der von Information spricht ;-), oder an die Synergie, die aus der Lasertechnik hervorging. Schon A. Sokal, als Physikprofessor war aufgefallen, dass besonders viele Begriffe der Physik in den Sozialwissenschaften verballhornt entlehnt werden, worauf er seinen Sokal-Hoax aufgebaut hat. Das heißt, dass wir in der Wissenschaft sehr genau unterscheiden müssen, hinter welchen Worten klar definierte Begriffe stehen, und wo Worte falsch, unscharf, oder in irreführendem Kontext verwendet werden.
Beim Wort Hybrid habe nicht ich die Beziehung zur Biologie hergestellt, sondern habe mich nur auf Ulucans Einlassung bezogen und auf die Tatsache, dass man bei dem Begriff Hybride Bibliothek nicht wissen kann, ob das etwas mit Digitalisierung, mit Kultur oder mit Biologie zu tun hat. Wir müssten also das Homonym im Kontext präzisieren, als digital hybride Bibliothek oder kulturell hybride Bibliothek. Eine Spezialbibliothek für biologische Hybridenforschung ist sicher auch denkbar. Wenn aber der Begriff so weit gefasst wird, dass alle Bibliotheken hybrid sind, kann man das Wort hybrid ohnehin weg lassen. Das war die Essenz meiner Aussage, weil schon die Hybrid Library der Europäer (5 eLib hybrid library projects ab 1996) Verwirrung gestiftet hatte, und sich darum die Digital Library der USA als Begriff weit stärker durchgesetzt hat.
Walther Umstätter