Die Bibliothek in der Literatur. Heute: (Nicht) in Natalja Kljutscharjowas Dummendorf.
von Ben Kaden
Über:
Spuren der Bibliothek in den Romanen Endstation Russland (Berlin: Suhrkamp, 2010) und Dummendorf (Berlin: Suhrkamp, 2012) der jungen russischen Autorin Natalja Kljutscharjowa.
(Soeben entdeckte ich auf einem entlegenden Datenträger einen Schubladentext. Da man so etwas heute schnell und einfach aus der Schublade eines vergessenen Dateiordners in die Weböffentlichkeit zerren kann, vollziehe ich diesen Schritt nun einfach mal zum Samstagabend. Denn unsere Kategorie Die Bibliothek in der Literatur zeigt sich doch etwas stiefmütterlich behandelt=vernachlässigt. Als Erläuterung für alle, die es nicht kennen sollten: Das Wort Frankenpolish taucht – auch für mich bei der heutige Nachlektüre erstaunlich – zweimal im Text auf und steht für eine ausgeprägte Fingernagel- bzw. Manikürkultur und in diesem Fall stellvertretend für eine überbetonende Einstellung zu Glanz und Bling und Körperpolitur, wie sie erfahrungsgemäß bei Studentinnen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft äußerst selten anzutreffen ist, in anderen Ausbildungsstudiengängen dafür etwas häufiger.)
„Mitja wollte sich schon verabschieden und wieder nach Moskau zurückfahren. In dem Moment stieg wie Sodbrennen ein zum Erbrechen bekanntes Bild in ihm auf. Er läuft die vollgespuckte Treppe hinauf, die langen Flure entlang, wo gelangweilte Mädchen mit ihrer Maniküre prahlen, er betritt das Institut und hört, wie die alternden Spezialistinnen für die Russkaja prawda in seinem Rücken tuscheln. Dann das tote Geraschel in der Universitätsbibliothek, die ineinander verschwimmenden ismen in einem dicken Wälzer. Und die quälende, nicht zu beantwortende Frage: »Wer braucht das alles?«“
Es gibt, dies zugegeben, einige Aspekte an dieser Textstelle, mit der Natalja Kljutscharjowas wunderbarer kleiner Roman nahezu beginnt, die nicht sofort in Deckungsgleiche mit dem Berliner Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft gebracht werden können. Die Russkaja prawda beispielsweise ist hier ohne Spezialistin und Belang und auf dem Entsorgungstischlein im Foyer flattert nur eine vergessene Ausgabe des IFLA-Journals zwischen allerlei Prospektmaterial vor sich hin. Immerhin gibt es hier aber vor dem würdig-wuchtigen Haus in der Dorotheenstraße drei Stufen, die, da Sammelpunkt der lokalen Rauchergemeinde, nicht ganz frei von Speichel sind.
Die Mädchen allerdings, besonders die gut manikürten mit oftmals beeindruckendem Frankenpolish, huschen eher getrieben über die glatten Treppen zum großer Hörsaal im Obergeschoss und ob sie sich da in irgendwelchen Einführungsvorlesungen zu welchen Rechtsgebiet auch immer langweilen, entzieht sich meines Einblicks.
Ebenso selten sind die „dicken Wälzer“ voller ismen und zwar sowohl als Buch wie auch als Lehrpersonal, das heute im Regelfall standesgemäß asketisch auftritt, und auch die Buzzwords des 2.0+-Zeitalters schimmern wenig ismen-artig. Bücher spielen an der Forschungsfront des Faches ohnehin kaum mehr eine Rolle. Höchstens, wenn es darum geht, sie zu digitalisieren, um ihre Inhalte quantitativ zu verwerten.
Die Verbindung aus der Welt der russischen Provinz, wie sie die 1981 in Perm geborenen Autorin beschreibt, in unsere Berliner Gegenwart ergibt sich aus der wenigstens unser Fach seit je begleitenden Frage am Ende der Passage. Wer braucht das alles? Nur beschreibt Natalja Kljutscharjowa leider weder Bibliothekswissenschaftler noch Bibliothekar, sondern einen linkischen Pädagogikstudenten in seinen späten Zwanzigern. Dieser möchte, vom Zweifel am Nutzen der Akademie an sich geplagt, irgendwo aufs Land, um gutwerkelnd in einer Dorfschule zu helfen und um damit nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern auch dem modernen Leben weitgehend zu entfliehen.

Das Dummendorf als Narbe der russischen Welt. Beide Romane Natalja Kljutscharjowas zelebrieren eine hohe Konzentration zu Literatur gewordenem Weltverständnis'. Die Bibliothek erscheint dabei nicht unbedingt der Schlüssel zur Durchleuchtung. Wohl aber als ein so seltenes wie angemessenes Nebenelement.
„Du haust sowieso nach einer Woche wieder ab.“, prophezeit ihm die Kreisschulrät(t)in und irrt dabei. Dass der Ausflug zu den ursprünglicheren Menschen und damit zum ursprünglicheren Leben scheitert, hat andere Ursachen. Mitja muss scheitern, weil der Mikrokosmos in den ihn Natalja Kljutscharjowa schickt, all das Schlechte und Gute der Welt und sehr viel Zerbrechen an den jeweiligen Bedingungen umfasst, welches sich gemeinhin hinter der theoretischen Auseinandersetzung mit dem „Das alles“ verbirgt.
Der Reiferoman der Autorin, die zuvor ein rauschiges Eisenbahnstück mit dem Titel „Endstation Rußland“ vorlegte, enthält nicht viel mehr zum Thema Bibliotheken, als diese zitierte leise Spitze über totes Rascheln zum Einstieg. In ihrem reichlich wahnwitzigen Erstling gibt es dagegen eine buchstäblich liebevolle Passage zur Bibliothek als Ort der Begegnung:
„Jasja will nicht emigrieren.
Sie will heute nach den Vorlesungen in die Bibliothek gehen und in der großen staubigen Enzyklopädie »Mythen der Völker der Welt« lesen. Und sich dann lange mit Nikita in der Herrentoilette küssen, wo sie immer rauchen und sich gegenseitig die zuletzt gelesenen Bücher erzählen. Und dann in der Musik- und Notenabteilung unter mit Isolierband reparierten Kopfhörern Paganini hören und einen Brief an Nikita schreiben, der neben ihr sitzt und mit einer Hand unter ihrem Pullover nach ihrer Brust tastet und mit der anderen einen Brief an sie schreibt, eifersüchtig auf Paganini.“
Das klingt ein wenig mehr nach einem Abend mittelsemestriger Studierender im Grimm-Zentrum. Soweit ihnen die modularisierten Studienpläne Zeit und Raum für derartige Abschweifungen zugestehen. Später in Endstation Rußland empfiehlt dann noch der umschwärmte Philosophieprofessor Roschtschin einer frühsemestrigen, mutmaßlich frankenpolish affinen Studentin, die tiefen Kummer mit ihrem ihr zu oberflächlichen Partner hat, als Therapie gegen die Kommodifizierung der Liebe:
„»Lesen Sie Kafka und Camus, da ist alles sehr gut beschrieben. Wenn das nicht reicht, bringe ich Ihnen noch andere Bücher mit. […] Und ziehen Sie ihre Jeans hoch, man sieht Ihre Unterwäsche. Ich denke, das schadet Ihrem Intimleben nicht weniger als der Kapitalismus«, sagte Roschtschin, der Provokateur, und die vertrauensselige Rita lieh sich in der Bibliothek Die Pest aus und kaufte sich keusche Jeans.“
Die Folgen hatte Roschtschin freilich nicht bis zum Ende durchdacht und irgendwann mündete dieser Hinweis in einer Akte beim FSB. Wer es genauer wissen will, kann sich das hochtourige Buch ruhig mal in der Bibliothek mit ausleihen, wenn er sich das nächste Mal Kafka und Camus holt.
Wir Kinder der mitteleuropäischen Präsenzkultur einer schwerelosen Allrounddigitalisierung finden in den Romanen, die beide in einer Art Jetztzeit spielen, wobei in Endstation Rußland sogar ein Hacker seinen Auftritt erhält, die Erkenntnis, dass man in Russland Kultur nach wie vor auch bei Autorinnen aus der Generation der „Digital Natives“ auf das Printbuch und die Bibliothek als Ort zentriert zu denken pflegt. Selbst wenn beide Romane auf weitaus Größeres als Lappalien wie den Medienwandel zielen. Der Autorin geht es, treulich dem literarischen Erbe Russlands folgend, mehr oder weniger um die anscheinend immergrüne Nekrassow’sche Frage Wer lebt gut in Rußland?
Dass sich Natalja Kljutscharjowa so anspielungsreich wie gewandt in der überreichen russischen Literaturtradition bewegt, versteht sich dabei fast von selbst. In jedem Fall scheint dieses Traditionsgut in Russland zeitstabil ein elementarer Bestandteil für jede Auseinandersetzung mit Fragen der kulturellen Identität zu sein.
Dem bei seiner Landflucht scheiternden Mitja zeigt sich das Bibliotheksthema schließlich noch einmal nach der Katastrophe mitten in der verlorenstmöglichen Landschaft. Und zwar als wahnwitziger Ausstieg aus Dummendorf, einem ohne Zweifel fantastischen und unbedingt lesenswerten Beispiels junger russischer Gegenwartsliteratur. Nach der missglückten Eskapade im Dörfchen Mitino bleibt ihm nur noch die bittere Rückkehr nach Moskau und also in sein altes Leben. Und dann endet das Buch mit diesen Zeilen:
„Auf hohen Absätzen immer wieder umknickend, kam ihm dieselbe Frau im Mantel entgegengestolpert, die er am Tag seiner Ankunft gesehen hatte. Sie verschmierte schwarze Tränen über ihr ganzes Gesicht.
»Junger Mann«, rief sie ihm zu.
Mitja blieb stehen und rückte seine Brille zurecht.
»Wie komme ich zur Bibliothek ?«, witzelte sie.
Und brach lauthals in heiseres Lachen aus.“ (S. 141f.)
Nur so für sich stehend glaubt man, dass einem derartiges wie geschildert auch am S-Bahnhof Friedrichstraße widerfahren kann…
Berlin, 27.01.2012
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