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Nützlichkeit kennt klare Grenzen. Eine Position zu Dissens, Kritik und Wissenschaftsfreiheit (nach Judith Butler)

Posted in LIBREAS preprints by Ben on 14. August 2011

von Ben Kaden

Abstract:

Der Aufsatz untersucht ausgehend von der Argumentation Judith Butlers zur Wissenschaftsautonomie (Butler, 2011) das Konzept der Kritik als möglichen meta-analytischen und meta-methodologischen Grundbaustein von Wissenschaft. Diese Kritik zweiter Ordnung wird dabei nicht nur, Judith Butler folgend, als Option für die Selbstlegitimation von Wissenschaft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ansprüche an eine Nutzbar- und Verwertbarkeit wissenschaftlicher Arbeit angesehen, sondern darüber hinausgehend verstanden als erforderliches Verfahren, aus dem heraus sich Aktualisierungs- und Übersetzungsprozesse inner- und interdisziplinär organisieren lassen.

Freiheit der Wissenschaft wird dabei als Verpflichtung zum Entscheiden verstanden, der nur mit einer elaborierten kritischen Kompetenz entsprochen werden kann. Die Integration dieser Kompetenz erfordert gleichermaßen das Anerkennen der sozialen Dimension von Wissenschaft, das produktive Zulassen von Dissenz und ein Verständnis der Rolle von Kontingenz im Prozess der Erkenntnisproduktion. Der Forderung nach Nützlichkeit wird einerseits die Notwendigkeit der Kontextualisierung (=nützlich für wen in welcher Hinsicht?) und andererseits das Konzept der Möglichkeit als Zweck der Wissenschaft entgegen gestellt.

(Der hier wiedergegebene Text ist die Vorversion eines Beitrags für die kommende Ausgabe (No. 19) der Zeitschrift LIBREAS. Library Ideas. )

I (Prolog: Das Nützliche)

Wer noch etwas Buchkultur erleben möchte, bevor sie zu einem exklusiven Vergnügen derer wird, die nach wie vor an Sommerabenden noch à quatre mains in die Tasten und nicht avec les deux pouces auf die Gummiknöpfchen des Social-Texting drücken, muss sich beeilen. Wenigstens wenn er Artikeln wie dem Shane Richmonds in der Zeitung The Telegraph glaubt. Richmonds zeigt sich fest davon überzeugt, dass das gedruckte Buch zum Untergang verdammt ist: The printed book is doomed: here’s why. Sein „That’s why“ ist ein typisches Herdenargument:

„It’s convenience that is drawing people to ebooks and that is what will kill printed books.” (Richmonds, 2011)

Wobei sich ihm Volltextsuche und Annotierbarkeit als die entscheidenden Annehmlichkeiten (neben dem Download in Sekunden und dem Bibliotheksbestand auf dem so oder so Endgerät) erweisen. Man könnte nun die Klappe für die alte Debatte öffnen, ob man nicht besser das Medium Buch in Ruhe lassen und lieber und treffender von einer neuen Form des Umgangs mit Texten sprechen und das Endgerät als Durchgangswerkzeug verstehen sollte. Was aber an Richmonds‘ Überlegung für die nachfolgen Betrachtung eher in den Mittelpunkt rückt, ist seine Hochrechnung des Verhaltens der Leser von morgen:

„Printed books will be strange relics from their parents’ generation. They might appreciate their form but they will approach them as fundamentally less useful. And useful always wins in the end.“ (Richmonds)

Am Ende siegt also das Nützliche. Mit dieser Position bezieht er sich auf ein nicht durchgängig verifizierbares aber doch oft bauchgefühltes kulturevolutionäres Basismuster und bestätigt eine technophile Zeitgeistprägung, in die sich auch Johannes Thumfart für die ZEIT einreiht, der mit einem hehren Anliegen – nämlich einem rechtlich angemessenen Rahmen für digitale Kommunikationsumgebungen – die Technologie preist, die uns die universale Bibliothek verspricht:

„Es dürfte das erste Mal sein, dass sich der Westen dafür entscheidet, eine verfügbare Technologie nicht voll auszunutzen – und das in einer so entscheidenden Frage wie der Bildung.

Es ist ein bisschen so, als hätte man den Buchdruck verboten, weil der Berufsstand der Schreiber um seine Existenzgrundlage fürchtete. Die Leser haben dagegen keine Lobby, obwohl sie das Fundament der Buchkultur bilden, hört man ihre Stimme in der Debatte selten. Man kann nur hoffen, dass das Gemeininteresse die Oberhand gewinnt und der Traum von der Universalbibliothek wahr wird.“ (Thumfart, 2011)

Er wirft „dem Westen“ kulturkämpferisch gerade den Mangel an dem vor, was Richmonds als Siegesparole ausgibt: Es gibt etwas mehr oder weniger Neues und Nützlicheres (sofortiger Zugang zu allem, was digitalisierbar ist), dass es dann auch in gesamter Breite zu nutzen gilt. Und selbstverständlich träumen alle davon, dass dieses Versprechen grenzenlosen Zugriffs auch eingelöst wird.

Nun ist man geneigt, den Hebel der Kritik mit der Frage anzusetzen, ob die damit verbundenen Transformationen der Kultur nicht gravierend genug sein dürften (neue Abhängigkeiten, neue Exklusionen und Inklusionen), um das Ganze vielleicht etwas gebremster und behutsamer vor allem aber reflektierter anzugehen? Ob es Gründe abseits des altbekannten Interessengekabbels gibt, die dafür sprechen, die technologische Innovationsspirale nicht als unbeschränkten Taktgeber der kulturellen Ent- und Verwicklung einfach so hinzunehmen? Denn derart scharfe Umbrüche setzen gemeinhin zu viel aufs Spiel, als dass man sich ohne gedankenlos schulterzuckend in eine solche Entwicklung fügen sollte, wenn einem an seiner kulturellen Identität gelegen ist.

Zudem gewinnt in einem Marktsystem am Ende zumeist nicht das Nützliche, sondern der, der das Nützliche kontrolliert. Wer die traditionellen Vertreter der so genannten Urheberrechtsindustrien aus dem Geschäft kegelt, der bereinigt das Feld für andere Marktakteure, die vielleicht die frischeren Konzepte zur Marktkontrolle mitbringen. Aber im Ergebnis als Kontrolleure der Infrastruktur unserer Kommunikationen nicht unbedingt edlere Ziele als den Eigennutz, eine der triebhaftesten Formen der Nützlichkeit, verfolgen: Es gewinnt in einem Marktsystem hauptsächlich der Markt. Der nützt vor allem sich selbst und kümmert sich bestenfalls am Rande um Allgemeininteressen. Da der Markt aber auf absehbare Zeit alternativlos das Koordinationsmedium zivilisierten Lebens bleiben muss, müssen wir in diesem Rahmen eine Lösung finden und ihn aktiv gestalten. (Etwas anders stellt sich die Situation vermutlich bei der Wissenschaftskommunikation dar, wo Verfahren diskutiert und verhandelt werden, die Alternativen zu primär erlösorientierten Modellen darstellen. Der Ansatzpunkt ist dabei die stärkere Herauslösung der Vermittlung dieser Kommunikation aus primären Marktstrukturen und die stärkere Reintegration der Wissenschaftskommunikation in die Wissenschaftsgemeinschaften.)

Butler_Kreuzung

Judith Butlers Gedanken zu unbedingten Universitäten liest man am besten (unbedingt) in/vor einer Universität. Für das Symbolbild halten wir sie daher quer zur Kreuzung Universitätsstraße.

Betrachte ich meinen Umgang mit dem Buchmarkt, dann finde ich in diesem  Lichtkegel gerade nicht das Alles, sondern das nach Qualität und Relevanz Ausgewählte, eine Aristokratie der Güte, die von der Konzentration und der bewussten Auseinandersetzung getragen wird. Dem Massenkonsum steht die bewusste Auswahl entgegen (was übrigens auch hilft, die Kosten im Rahmen zu halten). Und da ich mir nie sicher bin, ob mich die Auswahl nicht doch trügt und da sich die Kriterien mit jeder bewussten Markthandlung wieder verschieben, erfolgt begleitend eine permanente kritische Prüfung meiner Entscheidung. Es geht nicht um das abstrakte Medium Buch, sondern um die konkrete Ausformung desselben als stimmiges Objekt, wobei sich die Stimmigkeit an den Wechselbeziehung zwischen den drei Größen Form, Inhalt und Rezipient abzeichnet. Für die halbe Million Facebook-Nutzer, die der Gruppe I Hate Reading angehören, bricht schon mal Kriterium Nummer Drei fort und reißt eins und zwei mit in die Tiefe. Sie gehören damit einem anderen Kulturkreis an und eigentlich ist es angenehm, in einer Welt zu leben, in dem diese Sphären friedlich auf einer Plattform nebeneinander existieren können. Die Notwendigkeit dafür liegt aber in der Freiheit zur bewussten Entscheidung, also auch der Kompetenz der Auswahl, für oder gegen etwas. Was zeigt, dass die Freiheit der Zustimmung oder Verweigerung nicht total sein kann: Die Einschränkung liegt in dem unhintergehbaren Bekenntnis zur Auseinandersetzung mit einer Sache. So wie in der Diskursethik die Bereitschaft der Akzeptanz eines bestimmten Normenkonsenses (der geteilte Wille zur vernünftigen Verständigung) den Diskurs überhaupt ermöglicht, so gilt das Prinzip bei jeder bewussten individuellen kulturellen Entscheidung. Auf Auswahlentscheidungen bezogen können wir hier buchstäblich von Kritik (von krínein= scheiden, trennen; entscheiden, urteilen) sprechen. Die Möglichkeit der Universalisierung dieses Prinzips ist der Gegenstand dieses Aufsatzes.

II (Die nützliche Wissenschaft)

Das Prinzip lässt sich nämlich gleichermaßen für ein Feld der Gesellschaft als bedeutsam aufzeigen, dessen primäres Kommunikationsmedium über Jahrhunderte das bedruckte Papier war und welches sich sehr heftig von digitalen Erschütterungen und Verwerfungen betroffen zeigt und zugleich eine maßgebliche gesamtkulturelle Einflussgröße repräsentiert: Die Wissenschaft. Wo sich die Wissenschaft  verschiebt, verschiebt sich auch etwas in einer von der Wissenschaft wenigstens mittelbar dominierten Gesellschaft. Denn ein Leitkonsens unserer Lebenswelt ist, dass im Zweifelsfall die Wissenschaft das Wahrheitsmedium darstellt, welches in komplexen Situationen noch die genaueste Expertise bietet. Und wenn es einen Bereich gibt, der den Innovationsgedanken zum Motto erhoben hat, dann ist es gleichfalls der gesellschaftliche Funktionsbereich wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion.

Aber gerade dieser sieht sich nun wiederum unter Druck, denn häufig scheint es, als sei intrinsische Drang zur Erkenntnisproduktion nur unter der Maßgabe einer Bedingung zulässig: Er muss auf etwas extrawissenschaftlich Nachnutzbares ergo Nützliches hinwirken. Es bleibt die Frage, woran sich Nützlichkeit misst und messen lässt. Denn wenn diese Vorgabe unsere Wissenschaftplanung beeinflusst, also auf das Ideal der Wissenschaftsfreiheit einwirkt müssen wir es selbst bestimmen, prüfen und damit einer Kritik unterziehen können.

Genau um dieses Thema dreht sich die kleine, aber gehaltvolle Schrift Judith Butlers, die der Zürcher diaphanes-Verlag vor einigen Monaten in seiner Reihe „Unbedingte Universitäten“ vorlegte. Denn das es der Universität des 21. Jahrhunderts ein wenig wie dem Medium Buch bei Richmonds ergeht, ist hier vielleicht meine zugespitzte Zusammenführung, generell jedoch keine exklusive Wahrnehmung. Die Universität, so blitzt es in entsprechenden Diskursen oft auf, wird nur noch buchstäblich bedingt und nicht länger als autonome Instanz geduldet. Als Bedingung gilt, dass sie nützlich ist – und zwar nicht nur sich selbst, sondern Wirtschaft und Gesellschaft. Das bekommen besonders Disziplinen spüren, die sich nicht dem Innovieren oder wenigstens dem naturgesetzlichen Erklären verschrieben haben, dass auf diverse Sachverhalte anwendbar ist, sondern die das Verstehen des Singulären bzw. die Auseinandersetzung mit diesem in das Zentrum ihres disziplinären Blicks rücken. Also alle diskurstheoretisch und kritisch aufgeladenen Fächer. Judith Butler schreibt als Philosophin naheliegend auch einen Text über die Geisteswissenschaften. Diese leiden daran, dass sie mit ihrer Apparatur (der Sprache, der Deutung) kaum beeindrucken können, denn die Sprache scheint als Werkzeug nahezu jedem beherrschbar. Sie leiden zudem daran, dass ihre Ergebnisse häufig entweder wenig spektakulär sind, sondern schlicht Zustände verstehend anerkennen, oder aber, wenn sie gut funktionieren, Zustände zwar in Frage stellen, aber eben keine eindeutige Antwort nachliefern. Zielen technischen Disziplinen auf Kontrolle und Optimierung, wirken (postideologische) Geisteswissenschaften naturgemäß destabilisierend und subversiv. In dem sie das Ereignis, das Einzigartige und Singuläre aus verschiedenen Perspektiven betrachten und mannigfaltig kontextualisieren, sagen sie nichts anderes: Es könnte so sein, dies ist der Vorschlag einer Deutung. Damit können wir weiter arbeiten.

Dort, wo man auf schnelle, reproduzierbare Innovationszyklen setzt, stört solch ein Ansatz. Deshalb vertragen sich die allgemeinen Nützlichkeits- und Optimierungsdiskurse auch eher mit der Wissenschaft und Wissenschaftsinnovation mit den STEM-Fächern. Irgendwie gewinnt man den Eindruck, als läge im Narrativ der Nützlichkeit selbst eine Art Weltformel des vorherrschenden Zeitgeistes der westlichen Hemisphäre. Und die Nützlichkeitsmessung wirkt dabei häufig als Kreuzweg, an dem sich das berechtigt oder nicht entscheidet. Problematisch wird dabei, dass man schwer beurteilen kann, woran sich diese Nützlichkeit eigentlich misst. Der Nutzen zeigt sich immer in einem gewissen Kontext und vor bestimmten Vorannahmen. Beim Diskurs zum elektronischen Buch sind das die Leichtigkeit des Downloads, die Nachnutzbarkeit der Anmerkungen, der selektive Zugriff per Volltextsuche sowie das Versprechen der Masse vor der Annahme, dass dies das Ziel jedes Lesers sei. In der Wissenschaft kann es jedoch nicht nur formale Convenience sein, auch wenn man oft angehalten wird, auf schlichtest mögliche Verständlichkeit zu setzen. Vielleicht ist es aber der Covenience Store, d.h. der Markt, in dem sich die Ergebnisse schnell und reibungslos verwerten lassen, aus dem man die Bewertbarkeit der Nützlichkeit ableitet. Das eine Erkenntnis schnell und mit wenig Reibung integrierbar ist, also bequem rezipierbar, bildet dabei freilich ein Brücke.

III (Drei Grenzpunkte der Wissenschaftsfreiheit)

Dass Judith Butlers Aufsatz nun in deutscher Übersetzung als Buchpublikation erschien, ist lobenswert, denn der Urtext, 2009 in Critical Inquiry publiziert, ging wenigstens im wissenschaftsphilosophischen Diskurs der Bibliotheks- und Informationswissenschaft etwas unter. Als Objekt zeichnet sich das Bändchen vor allem durch sein trügerisches Missverhältnis zwischen der Leichtigkeit der Form und der Sperrigkeit des Inhalts aus. Aber auf Eingängigkeit legt Judith Butler weniger Wert. Dafür umso mehr auf Einsichtigkeit und penetrantes Nachfragen nach den Bedingungen der Wissenschaft und des Konzeptes der Wissenschaftsautonomie. Letztere scheint für uns so selbstverständlich geworden zu sein, dass wir in der Tat etwas in Erklärungsnöte zu schlingern drohen, wenn uns eine Legitimation einfordernde Instanz, die von der Nützlichkeit des Unternehmens Wissenschaft überzeugt werden will, fragt, warum sie uns eigentlich unterstützen soll. Sie fragt aber weitaus seltener, wie ihre Maßstäbe an die Nützlichkeit zustande kommen.

Nicht zuletzt die Bibliothekswissenschaft zeichnete sich in den letzten Jahren durch bedenklich viele Selbsterklärungsversuche aus. So etwas allein fruchtet aber nur dort, wo bereits das Narrativ der Nützlichkeit als ausreichend bedient empfunden wird. Also in einem Kontext in dem es vor allem auf die rhetorische Zugkraft ankommt.

Geht es um mehr, erwächst die beste Legitimation fraglos aus als eindrucksvoll oder wenigstens als relevant wahrgenommener Forschung (Stichwort: Nachnutzbarkeit oder auch: kontextualisierte Nützlichkeit) bzw. einem Lehrbetrieb, der schnell einsetzbare, exzellent qualifizierte Absolventen für die jeweiligen professionellen Arbeitsfelder hervorbringt. An beiden Punkten wird erkennbar, dass ein aktive Wissenschaft nicht für sich allein agiert, sondern immer mit a) der Universität als die Wissenschaft beherbergende und institutionell grundsichernde Instanz, b) mit der Wissenschaftsförderung als Forschungssicherung und c) mit einer nur bedingt bestimmbaren (professionellen) Außenwelt verwoben ist. Womit wir also drei Nadelöhre hätten, an denen wir unser Fach messen müssen/können.

Judith Butler legt noch ein viertes dazu: Wirklich legitimierbar ist eine Wissenschaft nämlich für sie nur, wenn sie den unhandlichen Aspekt der Kritik genuin in ihrer Selbsterzeugungspraxis, die die Autonomie zwangsläufig einfordert, zu integrieren versteht. Eine Wissenschaftsdisziplin muss demnach auch vor sich selbst und einer Selbstkritik bestehen.

Kritik ist für Judith Butler gerade nicht die Ablehnung aus Prinzip (diese „Praktiken der Destruktion, des Nein-Sagens, des Nihilismus […] des grenzenlosen Skeptizismus“, Butler, S. 55), sondern eine Stufe in der Meta-Methodologie („der Ebene des Verfahrens“), die uns ein Recht auf Dissens sichert. Das würde in einem fiktiven Beispiel bedeuten, dass wir einem Arbeitsmarkt für Wissenschaftler, der von uns emsige und folgsame Sachbearbeiterbienen einforderte (was nicht der Fall ist!), sagen: Wir bedauern, aber dafür ist eine wissenschaftliche Ausbildung nicht geeignet. Sie bekommen von uns nur Fachkräfte mit einem problemorientiert kritischen Blick, die ihnen ohne Umschweife sagen, wenn eine Stellschraube unpassend sitzt. Sie bekommen von uns nur wache Mitarbeiter mit einem intrinsischen Gestaltungswillen. Unsere Absolventen werden bei Ihnen etwas verändern.

Das bedeutet zudem, dass man in der innerdisziplinären Selbstorganisation fachliche Facetten, Nischen, Entfaltungen hinnimmt, die erst auf den zweiten Blick Relevanz entfalten. Oder auch (konstruktiv) scheitern können.

Nicht nur eine über Nachnutzbarkeit durch Dritte bestimmte Nützlichkeit als generelles Sieb setzt hier einen Druck an, der die Selbstorganisation beeinträchtigt. Auch innerdisziplinäre Interessenlagen unterschiedlichster Motivation schichten Barrieren auf, die sich in der Zeit verfestigen können, bis sie kaum mehr überwindbar werden. Kommt beides zusammen, ist die Wissenschaftsautonomie in einem doppelten Pferch.

Und schließlich bedeutet es, dass man Drittmittelförderung nicht als Zugeständnis sondern als Verhandlungsmasse begreift. Die Wissenschaftsförderung soll gerade Räume der Erkenntnisproduktion sichern, die zunächst einmal ergebnisoffen nicht hauptsächlich auf die Bedingungen des bestehenden Marktes ausgerichtete Produkte hervorbringen. Sondern möglicherweise Produkte für zukünftige Märkte. Oder aber, was noch wichtiger scheint, sollte die Wissenschaft gar keine Produkte, sondern Alternativen zur jeweiligen Produktkultur und gegebenen Kulturprodukten ausleuchtende Perspektiven auf ihre Agenda setzen. Dies der Support Community – also der die Wissenschaft alimentierenden Gesellschaft – zu vermitteln, ist eine diffizile Aufgabe.

IV (Alternativität / Dissens)

Eine vitale Gesellschaft ist eine fantasievolle Wesenheit, die sich nicht nur dafür interessiert, was sie ist, sondern auch dafür was sie sein könnte. Wahrheit ruht hier im Kiesbett eines relationalen Zustands, nicht auf (oder unter) einem metaphysischen Felsblock der absoluten Allgemeingültigkeit. Eingelagerte Funktionssysteme wie die Kunst oder eben auch die Wissenschaft sind die Spielräume dieser Neugierde, die nach bestimmten (Wahrheits-)Verfahren das Seiende mit dem Darstell- bzw. Denkbaren in Beziehung setzen. Die dahinterstehende Idee eine elaborierten, schöpferischen Multiperspektivität ist unvermeidlich eine Kultur auch des Dissenses.

So geht es Judith Butler wie allen Intellektuellen, denen mehr an der Vorhut (Avant-Garde) des Denkens und Schaffens denn am trägen Trost des Trosses gelegen ist, darum, das Potential der – natürlich methodisch und systematisch abgesicherten – Grenzüberschreitung in diesem Fall als Bestandteil der Wissenschaft zu erhalten.

Sie bewegt sich dabei zugleich in der Nähe zum Funktionsgeschwister der Wissenschaft, also der Kunst, wobei die geschwisterliche Beziehung mit unter eine siamesische Zwillingsform annimmt, in der sich das Kunstseitige zumeist wohler fühlt, als sein strenges Wissenschaftspendant. Diese Nähe wird in kaum einer Disziplin so deutlich, wie in der Philosophie und so erscheint ein Zitat passend, welches aus einem Interview mit dem Künstler Bruce Nauman aus dem Jahr 1978 stammt:

„But the support community can function both ways: it is a support community but it is also a limiting community. All they can support is what they know . When you do something other than that, you are automatically deprived of support. This is not meant as criticism, it’s a fact. Your activity does become moral and political in this sense that whenever an artist or a philosopher chooses to do original work he threatens the stability of what is known about the discipline, and that is a political situation.” (Nauman, 2003, S. 194f.)

Hier treffen sich der Künstler Bruce Nauman und die Philosophin Judith Butler an einer Stelle, an der jede Gemeinschaft – sei es die Gesellschaft, die sich Wissenschaft leistet, eine Fachdisziplin oder eine Community einer bestimmten Kunstrichtung – die Balance zwischen der Innovationsbeschleunigung und -entschleunigung finden muss. Jede maßgebliche Verschiebung, also alles was dahingehend neu ist, dass es die jeweilige Bezugsgruppe unvorbereitet trifft, gefährdet in einem gewissem Umfang bestehende Strukturen. Unter anderem – mit diesem Blatt spielt Judith Butler den Stich ihrer Argumentation – die für Selbstbild und Selbsterhaltung der Gruppe legitimierend wirkenden. Da andererseits spätestens seit der Moderne Neuigkeit gleichfalls als lebenserhaltende Maßnahme eines Systems verstanden wird, muss man sich zur Notwendigkeit des Neuen in eine produktive Beziehung setzen. Und diese Beziehung ist kritisch.

V (Dissens / Kritik)

Kritik wirkt in diesem Feld zweifach: Einerseits erhält sie das System, in dem sie etwas zu dem Gegebenen Dazu-Tretendes (eine Theorie, ein Buch, ein Kunstwerk) in Relation vermisst (im Sinne von messen) und somit den Dissens integriert, den eine Neuigkeit im geschilderten Sinn zwangsläufig darstellt. Der Dissens kann sich dabei auf einer anderen Ebene konsensuell anfühlen, nämlich wenn er von allen Akteuren als notwendiger Schritt begrüßt wird und sich nur im Sinngehalt vom vorhergehenden Zustand unterscheidet.

Wie wahrscheinlich alles im Kommunikativen hat der Dissens mehrere Seiten (Semiotiker setzen gern auf drei): a) die Ausdrucksform, b) den Inhalt und c) die Zustimmung/Ablehnung von Form und/oder Inhalt durch Akteure. Er verschiebt die Konstellation, in der er wirkt, im Sinne einer Semiose. Da Butler selbst keine dissenstheoretische Auseinandersetzung ausbreitet, will auch ich diesen Aspekt in diesem Zusammenhang nicht zu breit auffächern. Es ist mir aber wichtig, anzumerken, dass meiner Ansicht nach von Dissens-Phänomene durch eine analytische Binnengliederung der Wirkungsrichtungen von Abweichungen in einer Konszellation differenzierter verstanden werden können. Gerade in einem sehr geregelten Kontext wie der Wissenschaft ist zu fragen:

  • Stimmt die Form mit dem Erwarteten überein? (Formnormative Strenge ist eine Grundqualifikation für die Anerkennung einer Arbeit als wissenschaftlich.)
  •  Stimmt der Inhalt mit dem Erwarteten überein? (Hier wird ein gewisses Maß an Neuigkeit erwartet, das jedoch immer nah genug am Bekannten sein muss, um als gültig zu gelten. Wichtig ist die Anschließbarkeit eines Inhalts an bestehende Semantiken.)
  •  Stimme ich als kritischer Rezipient damit überein oder widerspreche ich? (Jeder Wissenschaftler ist in dieser Hinsicht ein kritischer Akteur.)

Eine inhaltsbasierte Verschiebung, die eine meist „Fortschritt“ genannte Veränderung an einer Stelle im geteilten Wissenshorizont der Gemeinschaft zur Folge hat, wird in der Regel begrüßt. Dreiste Abweichungen in der Form – wie sie oft Gegenstand von Wissenschaftsblogs sind – werden dagegen oft als außerhalb des legitimen Diskurses gesehen und gelten entsprechend als mehr oder minder unerwünscht destabilisierend für das Wissenschaftssystems. Im Normalfall werden sie ignoriert und da sie sich nicht an die formalen Konventionen halten, ist dies auch leicht möglich. Stimmen jedoch Form und inhaltliche Raffinesse, widerstrebt der Inhalt aber dennoch den Lesern aus welchem Grund auch immer zu arg, ist er in einer Community meist kaum unmittelbar durchsetzbar. Zwar steht über dem Portikus der Wissenschaft RATIO in Kapitälchen eingemeißelt. Aber erfahrungsgemäß flattern die Fähnchen darunter ab und an auch in unberechenbaren Winden.

Als Illustration passt vielleicht folgende gedankenspielerische Projektion auf unser Fach: Wird beispielsweise in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft durch präzise Anwendung einer etablierten Methode (Bibliometrie) eine überraschende Korrelation, ein erstmals so aufgezeichneter Zitationsgraph o. Ä. festgestellt und per Fachaufsatz kommuniziert, vollzieht sich zwar auf der inhaltlichen Ebene eine Verschiebung. Auf der methodischen und wissenschaftskommunikativen Ebene werden aber die Gemeinschaft und ihre Struktur stabilisiert. Die Kritik mäße in diesem Fall, inwieweit sich etwas im vorgegebenen Rahmen bewegt, anschlussfähig bleibt und erweiternd wirkt. Das System wird stabilisiert. So eine Kritik ist allseits willkommen und akzeptiert und zitiert. Wird dasselbe Ergebnis dagegen in einem Weblog verkündet, ist die Rezeption (aktuell) mutmaßlich eine andere. Eventuell wird sie übersehen, in jedem Fall dürfte sie es schwer haben, in den traditionellen Wissenschaftsdiskurs einzufließen. Exklusion und Inklusion gehen angesichts der Tendenz eines Systems, sich selbst zu erhalten, oft auch mit Tradition bzw. Konvention einher. Das ist per se nicht negativ. Man sollte nur wissen, was warum geschieht. Also Kritik üben.

Eine in den Erkenntnisprozess eingebettete Kritik aber, die nicht bei einer der drei Ebenen (Form, Inhalt, Akzeptanz) ansetzt, sondern vorgelagert als Kritik zweiter Ordnung nach den Bedingungen dieser drei Ebenen fragt, ist bislang seltenBestandteil von Tradition und Konvention und wird umso mehr als problematisch (bzw. destabilisierend) angesehen. Innerdisziplinär entspricht sie nämlich meist einem irritierenden Blick in den Spiegel, den man gern vermeidet, expliziert er doch schonungslos all die Defizite, um die man implizit wahrscheinlich weiß, mit denen man sich jedoch nicht so gern befassen mag. Auf andere Disziplinen bezogen wird sie mitunter als Provokation empfunden: Als Außenstehender muss man schon eine besondere Position im Wissenschaftssystem einnehmen, um hier als legitim Kritik übend angenommen zu werden. Es gibt die durchaus mit ernstem Kern versehene Aussage, dass sich die Diskursanalyse – also eine kritische Auseinandersetzung mit den kommunikationsbasierten Erkenntnispraxen einer Community – exzellent eignet, um sich gründlich und bei allen Beteiligten unbeliebt zu machen.

Selbstverständlich gefährdet eine derartige Kritik – wenn sie konsequent offen und radikal vollzogen wird – die Stabilität des Systems. In einer bestimmten Hinsicht ist dies ein Zweck von Kritik. Diese Kritik zweiter Ordnung – die auch für Judith Butler entscheidend ist – nimmt nämlich weniger ins Visier, wie etwas passt, sondern was wie gerade nicht passt. Natürlich bestätigt sie im gleichen Zug. Das Erkenntnisinteresse der Kritik liegt jedoch weitaus stärker auf den Fehlstellen. Nur sehr wenigen menschlichen Akteuren ist daran gelegen, am eigenen Schwarzbuch der Versäumnisse mitzuschreiben, mag diese Tätigkeit noch so lehrreich und produktiv sein. Wenn es an die Gefährdung oder Relativierung der eigenen Position und vor allem der eigenen wissenschaftlichen Biografie geht, bleiben erfahrungsgemäß bloß sehr abgeklärte (bzw. abgesicherte) Akteure ruhig. Der Schritt ist aber gerade dann notwendig, wenn es um die Verteidigung der Eigenständigkeit der Wissenschaft geht, was nicht zuletzt das wahrgenommene Bestehen einer möglichen existentiellen Gefährdung der eigenen Position in der Wissenschaft durch Kritik zum Ausdruck bringt. Denn diese Kritik umfasst mehr als das temporäre Wohlgefühl einzelner Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft. Vor der Autonomie steht folglich, wenn man so will, die Autotomie (im analytischen und nicht im beschädigenden Sinn) zur Erhebung sachdienlicher Hinweis zur Verfassung einer Wissenschaftsgemeinschaft.

VI (Autonomie)

Gemeinhin – und der von Judith Butler zum Einstieg in ihren Text zitierte Robert Post kann als typischer Vertreter dieser für die Wissenschaft sehr angenehmen Perspektive gelten – ist folgende Annahme anzutreffen: Die Autonomie der Wissenschaft wird legitimiert über die Qualifikation, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Die Akteure gelten hier als ideal rational Handelnde. Ihre Rationalität (bzw. die prinzipielle Befähigung dazu) haben sie durch das erfolgreiche Absolvieren wissenschaftlicher Qualifikationsschritte als Initiationsformen dieser Gemeinschaft bewiesen.

Die ideale Wissenschaftsgemeinschaft ist somit zureichend rational, kompetent und mit genügend Prüfverfahren ausgerüstet, um jeder äußeren Normvorgabe enthoben sinnvoll zu handeln. In Anlehnung an die Diskursethik ist davon auszugehen, dass jeder Wissenschaftler der Prämisse eines herrschaftsfreien und vernunftorientierten Diskurses als Kommunikationsform der Wissenschaft zustimmt.

Es lässt sich daher davon ausgehen, dass eine innere Normativität der Wissenschaft ihre Autonomie legitimiert. Wer jemals selbst in einer Wissenschaftsgemeinschaft aktiv war oder wenigstens einen Grundhauch Wissenschaftssoziologie mitbekam, weiß jedoch, dass es sich bei diesem Anspruch um ein äußerst fragiles Ding an sich handelt. Wie bereits oben bei Fähnchen angedeutet handeln Akteure aufgrund von Motivationsmustern, die eben nicht durchweg rational und sachbezogen sind, mit diesem Ding und zugleich in einem nur semi-autonomen Rahmen. Aus diesem Grund ist das Konzept der Wissenschaftsautonomie an sich zwangsläufig eine Verhaltensfiktion, an der wir, weil sie stimmig ist, festhalten können, oder die wir, weil wir sie fortschreiben wollen, mit entsprechenden Analysewerkzeugen zerlegen, differenzieren und reformulieren können. Die Wissenschaftsautonomie ist vermutlich wie die von Karl-Otto Apel ausgearbeitete „Suche nach dem letzten Konsens“ (vgl. Apel, Karl-Otto, 2011) als eine regulative Idee zu verstehen, die der Wissenschaftler mit dem Peirce’schen „Self-Surrender“ akzeptiert, weil sie die Möglichkeit für eine bestimmte Form von Handeln eröffnet. Er ordnet sich der Idee aus Einsicht unter. Allerdings verlangt die Idee der Wissenschaftsautonomie, da sie auch nach außen wirkt, dass sie auch von wissenschaftsexternen Akteuren akzeptiert wird. Spielen sie nicht mit, fragen sie beim Thema Nutzen nach. Und dann sind wir wieder bei der Legitimation.

Der Zweck der permanenten Kritik (sh. auch Apel, S.320) ist nichts anderes, als sich die jeweiligen Bedingungen bewusst zu machen und Korrektive vorzuschlagen. Denn im Wissenschaftsvollzug als sozialem Geschehen entwickelt sich zwangsläufig wie in jedem sozialen System ein impliziter Eigensinn, der sich in seinen Praxen vom strengen Regiment der wissenschaftlichen Normativität zu einem Konglomerat von Entscheidungsmustern entwickelt, das zugleich mehr und weniger Spiel aufweisen kann – je nachdem auf welcher Seite des Gefüges ein Akteur mit seiner Erkenntnis steht. Die eingebettete permanente Kritik als Prüfmechanismus zeigt sich hier nicht nur ebenfalls als regulative Idee, sondern auch als mögliche regulative Praxis.

Man könnte die Konstellation nun eingehender machttheoretisch (Etablierte, Außenseiter, Ausgeschlossene) beleuchten und die Verknüpfung von wissenschaftssoziologischen Betrachtungen dieser Art mit bibliometrischen Analysen wäre ein reizvolles Dissertationsthema, das meiner Wahrnehmung nach bisher noch seiner Bearbeitung harrt. Judith Butler folgt jedoch einem abstrakteren Weg und fragt prinzipiell nach der Legitimierung von Legitimationsnormen:

„Würden akademische Normen […] zur legitimierenden Bedingung akademischer Freiheit erhoben, dann sähen wir uns damit konfrontiert, dass die kritische Infragestellung dieser Normen nicht nur die akademische Freiheit zu bedrohen schiene, sondern auch aus den festgelegten Parametern ihres Schutzes herausfiele. Das gilt auch für disziplinäre und interdisziplinäre Innovationen, die die Grenzen eines Fachgebietes aufbrechen können. Wissenschaftliche Normen, die teilweise als disziplinäre Normen ausgelegt werden, legitimieren die akademische Freiheit – aber was, wenn überhaupt, legitimiert solche Normen?“ (Butler, S. 7)

Die Frage ist unübersehbar politisch. Später formuliert Judith Butler mit gleicher Stoßrichtung aber etwas versetzt und auf die voruniversitären Existenzbedingungen erweitert den Nukleus, den die Universität ihrer Ansicht nach besitzt und besetzt: Die Kritik (zweiter Ordnung)– oder genauer

„jene Operation der Kritik […], die fragt, mit welchen Recht und mit welchen Mitteln bestimmte Doxa als notwendig und richtig akzeptiert werden und mit welchem Recht und welchen Mitteln gewisse Regierungsentscheidungen oder Gesetzesvorlagen als die vorkritische Doxa der Universität akzeptiert werden.“ (Butler, S. 28f., meine Hervorhebung)

Damit legt Judith Butler die konstruktive Verfassung von Wissenschaft und Universität frei und verortet die Praxis der Kritik ausdrücklich an der Schnittstelle der Bedingungen (Recht und Mittel) von Universität und Wissenschaft, wie wir sie gegeben (und unter Druck) vorfinden. Unter welchen Bedingungen lässt sich die Wissenschaftspolitik auf die regulative Idee der Wissenschaftsfreiheit ein? Beziehungsweise: Unter welchen Bedingungen stellt sie diese Idee in Frage?

Die Anschlussfähigkeit dieses Fragendoppels an die derzeit ablaufenden Diskussionen zum Wissenschaftsurheberrecht und die Urheberrechtsreformbemühungen des Dritten Korbs lässt sich kaum übersehen. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, zeigt sich mit der Open-Access-Bewegung und dem Ausbau entsprechender finanzierter Forschungsumgebungen eine (Re)Integration der Wissenschaftskommunikation in die Wissenschaftsgemeinschaft, wobei die Forschungs- und Wissenschaftspolitik zuungunsten bestehender Strukturen des Publikationsmarktes auf diesen Prozess einwirkt.

Selbstverständlich ist auch dieser Teilprozess offen zu reflektieren, wenn wir allgemein fragen, aufgrund welcher extra- und intrawissenschaftlicher Annahmen Wissenschaft als Funktionsraum der Erkenntnisproduktion (mit seinen disziplinären Kästel- und Verästelungen, seinen Einschlüssen und Ausschlüssen, seiner Unterscheidung zwischen wissenschaftlich und unwissenschaftlich und den jeweiligen Folgewirkungen auf genau den gesellschaftlichen Rahmen, der bestimmt, wie die Wissenschaft aussieht) so ist (sein kann), wie er ist (sein soll)? Und für wen?

Damit diese Fragen aber sinnvoll und berechtigt gestellt werden kann, benötigen wir neben einer passenden Methodologie zunächst einmal ein Recht auf Abweichung von der Doxa und zugleich das Recht auf ihre Dekonstruktion. Der Ansatz zielt also nicht auf die von Apel ausdrücklich verworfene „Dissens- und Differenzbildung um ihrer selbst willen“ (Apel, S.320), sondern fokussiert die Praxis einer offensiven Selbsterkenntnis und –gestaltung. Notwendige Voraussetzung für jede Konstruktion eines wissenschaftlichen Erkenntnissystems sind demnach die Legitimität des Dissenses sowie eine Praxis der Kritik in dem von Judith Butler zitierten Sinne Foucaults, der Kritik als Verpflichtung sieht, „ein Selbst hervorzubringen oder auszuarbeiten.“ (Butler, S.39) Dieses Selbst umfasst in jeweils wechselwirkender Zirkelbeziehung: den Einzelwissenschaftler, die thematische Community, die disziplinäre Community, die Universität und die Wissenschaftsgemeinschaft insgesamt.

VII (Disziplinarität)

Nachdem geschilderten Gedankengang bedeutet Wissenschaftsautonomie, in diesem inneren Kreisen und den daraus hervorgehenden Entscheidungen für die Selbsthervorbringung und -organisation weitgehend frei von äußerer Einmischung zu sein. Sie ist vorrangig als Recht auf Dissens und die Legitimität der Kritik zu verstehen. Die Wurzeln dieser Perspektive liegen, wie Judith Butler in ihrem kleinen Buch großflächig darstellt, bei Kant. Kant erscheint als großer Trenner der Wissenschaftsdisziplinen (bzw. Fakultäten), in dem er ihr Verhältnis zum Staat höchst ungleich bestimmt: Juristische, medizinische und theologische Fakultät sollten gern staatlicher Prüfung und Autorisierung unterliegen. Die Philosophie jedoch nicht:

„Die Freiheit der Philosophie von staatlichen Beschränkungen definiert folglich die disziplinäre Aufgabe der Philosophie; ihre Freiheit dient als eine begründete Vorbedingung für den Anspruch der Philosophie auf freie unbeschränkte Forschung, eine Bedingung, die notwendigerweise allen anderen Disziplinen fehlt.“ (Butler, S. 19f.)

Die Kritik ist damit das exklusive Recht der Philosophie. Dadurch, dass sie diese Exklusivität hinterfragt, baut die Philosophin Judith Butler ihren kritischen Ansatz sogleich aktiv um, wobei ihr die großen Strukturdurchdringer Foucault und Derrida eine willkommen konzeptionelle Hilfe sind.

Wir wissen heute natürlich, dass auch bzw. gerade die Philosophie kein politikfreier Erkenntnisraum sein kann. Die Politik ist zugleich Vorbedingung, Eigenschaft und in einem bestimmten Sinn auch Konkurrenz zu Philosophie bzw. Wissenschaft (und auch zur Kunst). Sie erscheint nämlich ebenfalls als ein Wahrheitsverfahren oder, wie Alain Badiou schreibt: „[…] die politische Aktion bringt das zur Wahrheit, wozu eine Gemeinschaft fähig ist.“ (Badiou, 2011, S.49)

Das Wissenschaftshandeln bringt dagegen zum Ausdruck (und damit zur Tatsache, und damit zur Wahrheit), wozu die Erkenntnisgemeinschaft der Wissenschaftler fähig ist.

Dies gilt auch für die Entscheidungsdimension dieses Sozialsystems. Wenn wir die Wissenschaftsfreiheit präzisieren, sehen wir, dass sie als Entscheidungshoheit in einem bestimmten, aber nicht absolut definierten Bereich zu verstehen ist, dessen Grenze mehr ausgefranst denn geometrisch exakt gezogen wurde. Die Idee der Trennung sowohl innerdisziplinär wie auch zu anderen Funktionssystemen scheint nur als zweckmäßiges Kontextkonstrukt akzeptabel. Sie muss ebenfalls hinterfragt werden können. Umso mehr, als, wie Badious Deutung des politischen Handelns unterstreicht, jede gemeinschaftsbezogene Handlung – und sei sie nur auf die innere Gemeinschaft einer Fachcommunity – eine politische Dimension besitzt.

Wissenschaftsautonomie ist an dieser Stelle keine Black Box „Wissenschaft“, sondern ein Verfahren, in einem geschlossenen Kreis die Regeln zur Entscheidungsfindung innerhalb eines Geltungsbereiches auszuhandeln.

Gerade diese Geschlossenheit gebietet aber eine Auquarianisierung dieses Aushandelns: Die Prozesse müssen nach Innen und besser noch ebenso nach außen transparent sein. Denn sonst kann die Kritik als großes Regulierungswerkzeug nicht greifen. So wie die Wissenschaftsfreiheit ein transparentes Geschehen sein muss, dass den kritischen Beobachtern volle Einsicht bietet, muss auch die Kritik offen vollzogen werden. Über diesen Schritt wird sie selbst einer Kritik unterziehbar.

VIII (Trennungen / Übersetzungen / Aktualisierungen)

Ich denke, dass an Judith Butlers Text vor allem deutlich wird, wie Trennungen und Grenzen nur dann akzeptiert werden können, wenn wir gleichzeitig ihre prinzipielle Durchlässigkeit unter bestimmten – und wichtiger noch: bestimmbaren – Umständen hinnehmen. Kants exklusives philosophisches Keimblatt wuchs sich im Prinzip zu unserer fixen Vorstellung von Wissenschaftsfreiheit aus. Damit ergab sich nebenbei ein streng umzäunter disziplinärer Handlungsraum der Kritik. Diese disziplinäre Auslagerung, so Judith Butler in meiner kumulierenden Lesart, ist heute einfach nicht mehr tragbar. Entsprechend ist jede disziplinäre Trennung selbst einer Kritik zu unterziehen, die selbige übrigens auch bestätigen kann. Dafür bietet sich Derrida an: Wo Kant als Trenner auftritt, präsentiert sich Derrida als Vermenger. So wie bei dem noch einen Tick radikaler aufblitzenden Michel Serres die belebte Welt an sich vom Zeichen bis zum Sperma ein großer Kontaminationsraum ist (Das eigentliche Übel. Berlin: 2009), so kontaminieren sich in Butlers Derrida Lektüre die Disziplinen permanent. (vgl. S. 23) Selbst wenn man vor der Radikalität dieser Position zurückschreckt, muss man doch eingestehen: Die disziplinäre Trennung erweist sich dann als problematisch, wenn sie unhinterfragt, also ohne das Bad der Kritik durchschritten zu haben, aus Tradition/Konvention ange- bzw. übernommen wird:

„Derrida fragt zu Recht, wie ein Austausch zwischen den Disziplinen stattfinden kann, wenn wir nicht die Möglichkeit der Übersetzung zwischen ihnen voraussetzen können – Übersetzungen, die Disziplinengrenzen sehr oft als fragile Konstruktionen entlarven und aufzeigen, wie Disziplinen selbst von Kontaminierungen heimgesucht sind, die nicht einfach beseitigt oder bewältigt werden können.“ (Butler, S. 24f.)

Der Ansatzstutzen versteckt sich hier im Konzept der Übersetzbarkeit. Das Übersetzen ist dabei der elaborierte Ersatz für das Übernehmen,beispielsweise von Konventionen, Normen und Traditionen. Betrachten wir dieses in einer Gemeinschaft Eigene in der gleichen Weise wie das Fremde, nämlich kritisch, dann wird es uns möglich, dieses genau der gleichen bewussten Prüfung und Übersetzung zu unterziehen, die ich als Aktualisierung bezeichne.

Zugleich steht das Übersetzen als Gegenstück zum Konzept der Abgrenzung und lässt ein vorüber- und hindurchgehen (jeweils=passieren) in gleicher Weise zu, wie es die Abgrenzung intakt hält. Beim Bezug auf eigene Konventionen, Normen und Traditionen ist die Abgrenzung historisch bestimmbar. Das Konzept der Zeit und die präzise Abbildung bestimmter Muster auf die Zeit (=Mapping) leistet hier hervorragende Dienste.

Generell unterliegt jede dieser Abgrenzungen nach wie vor Regeln, die jedoch den inkludierenden Austausch (Aktualisierung, Übersetzung) und nicht die exkludierende Abgrenzung (Ausschluss, Konservieren) betonen. Aktualisierung wie Übersetzbarkeit setzen Entsprechung voraus, also offene Relationen, die selbst wieder kritisch elaboriert werden. Und die bezeichnende Analyse der relationalen Eigenschaften.

Glauben wir Derrida (oder unserer akademischen Alltagserfahrung) ist eine Kontamination unvermeidlich. Beziehungsweise sind die Kosten der Sterilität exorbitant und stehen dem Nutzen für eine Gemeinschaft auch im Sinne der Selbsterhaltung (oder auch: Fruchtbarkeit) entgegen. Alles was uns also zu tun bleibt, ist ihre Regeln zu erkennen, zu gestalten (=Foucaults Selbsthervorbringung) und sie zu explizieren. Die Abgrenzung eines Faches ist keine undurchdringbare Demarkationslinie, sondern etwas, das aufgrund irgendwelcher Bedingungen gezogen wurde und auch anders hätte gezogen werden können. Der diskursive Kampf um die Deutungshoheit, um die richtige Abgrenzung, den legitimen Ein- und Ausschluss enthält mitunter und mit Grund eine leicht aggressive Konnotation. Der Ansatz von Kritik und Übersetzung könnte aber pazifizierend wirken.

Denke ich an dieser Stelle den Kritikbegriff für eine aktive durchleuchtende Operationalisierung weiter, gelange ich zu der Position, ihn auf diese Bedingungen der Abgrenzung und die Gestaltung der Durchlässigkeit zu richten. Er diente als Prüfmittel dafür, ob die Bedingungen der Abgrenzung (=Definition) (a) noch gegeben/aktuell sind und daher (b) die Grenze immer noch zutreffend verläuft. Diese zweiteilige Frage sollte jedes definitorische (=abgrenzende) akademische Handeln implizit in Habachtstellung begleiten und im Zweifelsfall explizit dekonstruieren.

So eine Prüfung könnte dann beispielsweise zu einer Entscheidung vergleichbar der führen, die Bibliothekswissenschaft zu einer Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu erweitern. Oder stärker mit einer kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Komponente zu ergänzen. In jedem Fall zählen auch hier die drei Begründungsdimensionen, wobei die Form der Methode, der Inhalt dem Gegenstand und die Akteure den Wissenschaftlern und Institutionen entsprechen. Hiervon ausgehend wäre es möglich, das eigene Aktualisierungsvermögen und das Übersetzungspotential von/zu/in andere/n Disziplinen zu bestimmen.

IX (Das Denken)

Möglicherweise wirkt bei der Beschäftigung mit dem Verfahren der Kritik, der Wissenschaft und den Abgrenzungen in der Wissenschaft, seien sie disziplinärer oder gegenständlicher Art, noch etwas anderes. Derrida fragt immerhin (im Anschluss an Schelling) „ob das Denken einer klaren Unterscheidung zwischen den Disziplinen vorangeht und diese unterbindet.“ (vgl. Butler, S. 24) Er zieht daher das Denken der Kritik vor, da Kritik seiner Ansicht nach eine disziplinäre Abgrenzung bereits als selbstverständlich gegeben annimmt. Das Denken läuft demnach bei Derrida als vorkritischer Prozess ab. Es geht nicht in den institutionalisierten Disziplinen auf, sondern bildet als intellektuelles Sfumato wiederum eine Art übergreifenden Rahmen. Wo manche (Camus, Chomsky, Ortega Y Gasset, Sartre) vermutlich das Konzept des Intellektuellen verorten würden, spricht Derrida von der unbedingten Universität, die in gewisser Weise als Institution gewordener Intellektualismus gedeutet werden kann. Die unbedingte Universität lässt sich als (begriffliche) Manifestation dieses (radikalen) vorkritischen, d.h. also vortrennenden Verfahrens verstehen. Was ein bedingungsloses Recht enthält, jegliche Differenzierungen (die Trennungen, die Struktur gewordenen Entscheidungen) zu hinterfragen und bei Bedarf (wenn eine kritische Prüfung die Notwendigkeit feststellt) neu zu arrangieren. Was jedoch genauso wenig auf den Widerspruch per se wie auf ein totales Egalitätsstreben hinauslaufen soll. Ihr Ziel ist ein differenzierter und differenzierenden Umgang mit Kontingenz, Relationalität und Perspektivität.

Wenn es nun auf dieser Basis eine Kritik der Kritik geben kann, dann ist sie an dieser Übergangsstelle vom Unentschiedenen zum Entschiedenen zum Neu-zu-Entscheidenen zu lokalisieren. (Derridas „Denken des Unmöglich-Möglichen“) Man begibt sich dabei unvermeidlich in einen unentrinnbaren Zirkel der Unschärfe, denn gerade der kritische Geist fragt nach den Bedingungen des vorkritischen Denkens, sofern man es nicht als metaphysisch-unerkennbares An-Sich hinnehmen mag. Judith Butler sieht in der Kritik der Kritik eine „Ausarbeitung in einer Art und Weise, die nicht im Voraus gewusst oder autorisiert werden konnte und die die impliziten und unkritischen Vorbedingungen der Operation der Kritik in Frage stellt.“ (Butler, S.26)

Vermutlich müssen wir also irgendwo schlicht affirmieren und uns damit abfinden, dass der Zweck der Kritik der Kritik (also auch der Selbstkritik der Kritik) die Prüfung der gegebenen kritischen Praxis über alle Stufen hinweg ist. Wir können damit leben, indem wir sagen, dass diese Anerkennung (also Entscheidung) nur temporär ist und solange gilt, bis sie selbst Gegenstand der Dekonstruktion wird. Damit befinden wir uns, schön derridaesk, in einer ständigen Verschiebung, da wir jede Kritik, also auch die Kritik der Kritik, wieder in Frage stellen können müssen. Ob man ohne einen absoluten erkenntnistheoretischen Bezugs- und Ruhepunkt in der Wissenschaft wirklich glücklich werden kann, ist dagegen eher eine Sache des Gemüts. Wahrscheinlich kann man das Glück in der Wissenschaft (und anderswo) nicht an Stabilität fixieren. Sondern muss schlicht hinnehmen, dass sich das Denken immer und ständig in Bewegung befindet und wir es, gleich dem Prinzip der Balance beim Radfahren, nur in dieser Bewegung stabilisieren können, indem wir einen Weg finden, darin zu ruhen. Das ist in gewisser Weise auch eine Gegen-Weberianische Position, der noch Verständnis für den Wissenschaftler äußern konnte, dem am Ankommen gelegen ist:

„Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirkliche endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: Eine spezialistische Leistung.“ (Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Tübingen, 1994, S. 5f.)

Aber er gibt, indem er vom „sich einmal an[…]ziehen“ der Scheuklappen spricht, sogleich zu erkennen, dass dies eine bewusste Entscheidung für die Eingrenzung des eigenen Blicks sein muss. Um etwas anderes geht es auch in meinen Überlegungen zu Kritik und Wissenschaft nicht. Mir liegt nur daran, dass man zuvor weiß, bei welchem Schneider man sich dieses den Blick verengende Klapptextil nähen lässt.

Wenn wir also an dieser Stelle den Gedankengang zwischen Wissenschaftsfreiheit und Kritik zusammenfassen, finden wir in Judith Butlers Text neben einer bisweilen etwas zähen Kant(bei Foucault (bei Derrida (bei Butler)))-Lektüre einen Grundstein der „unbedingten“ also autonomen (also zwanglosen) Universität beschrieben: Kritik ist das Mittel der permanenten Selbsthervorbringung und damit Legitimation akademischer Entscheidungen und in dieser Funktion die Absicherung dessen, was die Freiheit zum Entscheiden bzw. Zwanglosigkeit des Entscheidens ausmacht. Dissens im Sinne des dem Bestehenden widersprechenden Handelns, ist ein notwendiger Teil dieses Prozesses: Dissens wird in diesem Betrachtungsrahmen als aktiver Umgang mit Kontingenz verstanden.

Die Abweichung und Alternativität zeigt sich auf allen drei Ebenen (Form, Inhalt, Akteure) systemgestaltend und damit auch systemerhaltend. Weder die Wissenschaft an sich noch eine konkrete Disziplin ist statisch dauerhaft eingrenzbar ohne sich früher oder später vom Konzept der Wissenschaftsfreiheit (diesmal nach innen) aufzulösen. Die Stabilität dieses Ansatzes und damit unseres Verständnisses von Wissenschaft entsteht aus einer geordneten, in dieser Ordnung aber veränderlichen (=kritisierbaren, de- und rekonstruierbaren) Praxis. Es wird – hoffentlich – deutlich, dass die Kritik mit dieser Praxis zusammenfällt.

Wenn wir weiter denken, dann fällt uns möglicherweise die Variante ein, dass gerade das kritische Element die charakteristische Besonderheit und damit die Identität des Wahrheitsverfahrens Wissenschaft markiert. Badiou fragt in Hinblick auf die Politik der Gemeinschaft: „Ist sie fähig, das zu integrieren, was ihr fremd ist?“ (Badiou, S.49) Ich würde die Frage in unserem Kontext gern etwas versetzt und erweitert stellen: Ist die Wissenschaftsgemeinschaft fähig, sich ihre Selbstverständlichkeiten wieder fremd werden zu lassen (=hinterfragen) und als etwas Fremdgewordenes zu reintegrieren? Kritik scheint mir vor allem als sich selbst elaborierende Gemeinschaft denkbar.

Diese stetige konstruktive Eigenprüfung unterscheidet das Wahrheitsverfahren Wissenschaft von anderen Wahrheitsverfahren, mit denen sie aber ebenso anschlussfähig sein muss, damit sie – vermittels einer übergeordneten Politik der Gesellschaft – zu einem kulturellen Ganzen integrierbar wird. Wie die übergeordnete Politik dies vollzieht, liegt außerhalb der Reichweite der Wissenschaft. Sie kann aber klare, wirksame und damit diesem Zwecke nützliche Verfahren anbieten. Die Autonomie der Wissenschaft liegt darin, dass sie die unvermeidlichen Wechselbeziehungen innerhalb ihrer Gemeinschaft und zu ihrer Umwelt selbstbestimmt zu gestalten vermag. Die Freiheit dazu beinhaltet die Verpflichtung zu dieser Gestaltung und damit die Notwendigkeit, entsprechende Verfahren zu entwickeln. Die skizzierte Integration eines kritischen Verfahrens (zweiter Ordnung) zählt dazu.

X (Die Universität)

Das Raffinierte dieser Variante einer kritischen Methode, die immer die Grenzen ihrer eigenen Reichweite mitbestimmt, liegt in ihrer allgemeinen Anwendbarkeit:

„Kritik ist […] die Operation, die zu verstehen versucht, wie begrenzende Bedingungen die Grundlagen für den legitimen Gebrauch der Vernunft bilden können, die bestimmen, was gewusst werden kann, was getan werden soll und was gehofft werden darf […]“ (Butler, S.37)

Es handelt sich um zeitlose Basisphilosophie, der man die Frage „Auf welche Art?“ hinzufügen muss, erlaubt sie uns doch zu benennen, um welche Bedingungen es sich handelt und deren relationale Verfasstheit zu beschreiben. Dadurch gestattet sie uns, dem wie ein was beizugeben.

Wenn wir fragen: Was können wir wie wissen und damit Reichweite und Modus unseres Erkennens abstecken, dann schließt dies auch die Anerkennung der jeweiligen Begrenztheit unserer Wahrheiten ein: Es kann auch immer etwas anders sein. Was wir messen und schlussfolgern – so exakt und streng es in der Ausführung auch sein mag – ist von bedingter und begrenzter Gültigkeit innerhalb eines temporalen, semantischen Kontingenzbereiches (=Spielraum). Allein schon aus diesem Grund müssen wir Dissens beziehungsweise Alternativen zu unserer Position zulassen. Genau genommen ist es dieses (mögliche) Andere, dass es uns erst ermöglicht, das (tatsächliche) Unsere halbwegs zu erkennen.

Würde man mich fragen, was für mich den unbedingten Kern der Universität, der Wissenschaft, der Intellektualität darstellt, dann wäre meine Antwort:

Es ist die kritische (=unterscheidende) Erkenntnis der eigenen Begrenztheiten. In diesem intellektuellen Spiel einer (versuchten) systematischen und nach bestimmten Regeln doppelt disziplinierten Variation lernen wir, das, was uns als gegeben erfahrbar erscheint, benennend und relationierend wahrzunehmen.

Wir können uns damit aktiv – mit ständigen Verschiebungen – in unserer Lebenswelt verorten. Je offener, desto vielfältiger.

Da ein offenes (wildes), sich korrigierendes Denken im Alternativen volkswirtschaftlich weniger Kosten aufwerfen dürfte, als das dogmatische Festhalten an aus dem Lot trudelnden Entwicklungslinien, dürften sich sogar Nützlichkeitsfanatiker einer solchen Positionen anschließen können. Am Ende setzt sich bei jedem Akteur individuell das durch, was in einem bestimmten Kontext (a) verfügbar ist und (b) als stimmig empfunden wird. Die Aufgabe der Universität ist es, einen Rahmen zu bieten, in dem eine Vielfalt von Stimmen verfügbar gemacht wird. Das Verfahren der Kritik (manch einer mag hierin eine Rückreflektion der Kritischen Theorie Frankfurter Schule auf die Wissenschaft sehen wollen) dient dazu, diesen Rahmen zu erhalten. Und gegen Interessen, die ihn verengen, zu verteidigen. Damit er sich nicht etwa aus Versehen durch ein bestimmtes Nadelöhr ziehen lässt.

XI (Epilog: Das Mögliche)

Die Verschiebung vom gedruckten Buchobjekt zum liquiden Hypertext zeigt sich gleichfalls als Auseinandersetzung mit Grenzen und Übergängen. Die Materialität ist dabei eine stabilisierende Trennung, die einen Bereich aus seiner Umwelt herauszieht und deutlich bestimmbar macht. Was bestimmbar (benennbar) ist, ist in gewisser Weise auch kontrollierbar. Digitale Texte, die nicht nur Formen des Gedruckten digital emulieren, sondern hypertextuell eine neue Art des Umgangs mit Schrift, Text und Kommunikation darstellen, sind durch eine prinzipielle Offenheit und Grenzenlosigkeit charakterisiert. Die Infragestellung des bis vor vielleicht 15 Jahren dominanten über ein Trägermedium definierten Trennungs- und Sammlungsobjektes durch seine vollständige Prozessierung in Räumen digitaler Kommunikation, die nebenbei auch den Dokumentenbegriff dekonstruiert, sensibilisiert uns vor allem für die vorwiegend technische Definition unserer textbasierten Diskurse. Digitale Technologien schaffen selbstverständlich ebenfalls Dispositive für unser kommunikatives Handeln. Sie sind aber was den Fluss und Austausch von Kommunikationsakten angeht mit ganz anderen Kapazitäten ausgestattet, weisen folglich eine anderes Maß an Kontingenz auf. Erst dadurch wird die Einbeziehung von so etwas wie der Semantik (im Semantic Web) und der Pragmatik (als denkbares Pragmatic Web) überhaupt denkbar. Vor diesen Verschiebungen werden wir zugleich gezwungen, die Frage nach der Kontrollierbarkeit von Kommunikation – immer zentrales Anliegen von Bibliotheken – neu stellen.

Das vorkritisch/kritische Denken bezieht sich auf Übersetzungen und Übersetzungsregeln bzw. Aktualisierung und Aktualisierungsmethoden. Teil des Verfahrens ist, die wechselseitige Kontaminierbarkeit und Übersetzbarkeit von Formen und Bedeutungen verstärkt in die Betrachtung einzubeziehen. Denn dahinter steht, wenn es gut läuft, auch eine Emanzipation von der engen Fokussierung auf technische und verwaltungstechnische Dispositive, die die Bibliotheks- und Informationswissenschaft lange Zeit prägte. Was mir nach wie vor in unserem Fach zu wenig ausgeprägt zu sein scheint, ist die Einbeziehung kritischer und diskurs- und dissenstheoretischer Aspekte in dieses konzeptionelle Denken. Erst damit, und dies ist meine These für eine weitere Diskussion, gelingt die Erweiterung vom Schwerpunkt der Nützlichkeit auf den Aspekt der Möglichkeit. Erst damit gelingt es uns in unserer Disziplin, nicht nur produktive Wissenschaft zu betreiben, sondern auch schöpferische Wissenschaft. Weniger, so denke ich, sollten wir nicht verpflichtet sein.

Berlin, 13.08.2011

Zitierte Literatur

Apel, Karl-Otto (2011) Husserl, Tarski oder Peirce? In: ders. Paradigmen der Ersten Philosophie. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Badiou, Alain (2011) Lob der Liebe. Wien: passagen

Butler, Judith (2011): Kritik, Dissens , Disziplinarität. Zürich: Diaphanes

Nauman, Bruce, Wallace, Ian, Keziere, Russel (1979) Bruce Nauman Interviewed 1979 (October 1978) In.: Nauman, Bruce (2003)   Please pay attention please: Bruce Nauman’s words ; writings and interviews. Cambridge, Mass: MIT Press. S. 185-196

Richmonds, Shane (2011) The printed book is doomed: here’s why. http://www.telegraph.co.uk/technology/news/8680271/The-printed-book-is-doomed-heres-why.html

Thumfart, Johannes (2011) Die Sorgen der digitalen Bibliotheken. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-08/bibliotheken-digital/

Weber, Max (1994): Wissenschaft als Beruf; Politik als Beruf,. Tübingen: Mohr-Siebeck

4 Antworten

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  1. Ben Kaden said, on 18. August 2011 at 00:43

    Klaus Englert hat den Aufsatz Judith Butlers für den Büchermarkt des Deutschlandfunks besprochen und findet:

    „Judith Butlers Kultur des Widerstreits mutet an wie ein Revival des französischen Denkens nach 68. Man mag mit Recht fragen, ob ihre Streitschrift angesichts der theorieresistenten Zeit der Bachelor- und Masterstudiengänge nicht hoffnungslos veraltet ist. Aber vielleicht ist sie gerade deswegen aktueller denn je. Nämlich um gegen den herrschenden Pragmatismus den Dissens als ethischen und politischen Imperativ wachzurufen.“

  2. W. Umstaetter said, on 18. August 2011 at 11:34

    So interessant diese Überlegungen zu J. Butler sind, sie vernachlässigen die Ansätze der Wissenschaftsforschung bzw. der Szientometrie, die in der Bibliothekswissenschaft der letzten Jahrzehnte, wenn auch langsam, so doch erfreulich an Bedeutung gewonnen hat. Eine solche Kritik ist zwar müßig, wenn sich ein Buch mit einer anderen Thematik beschäftigt; sie ist hier allerdings als Ergänzung notwendig, da die Wissenschaftsforschung der letzten Jahrzehnte unser Wissen über die Wissensentstehung verändert hat. Dabei spielte bekanntermaßen der Wechsel von der Littel Science, wie sie noch T.S. Kuhn beschrieb, zur Big Science eine entscheidende Rolle.

    In der Szientometrie ging und geht es im Grunde um die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Bedeutung der Wissenschaft. So wurde immer wieder die wissenschaftliche Leistung verschiedener wissenschaftlicher Personenkreise, Einrichtungen oder Länder untersucht. Wobei im Hintergrund natürlich auch immer die Frage steht, wie nützlich, wie leistungsfähig ist eine unfreie, eine indoktrinierte Wissenschaft. Wie wichtig ist die Wissenschaftsfreiheit. Schon allein darum hat es frühzeitig einen Wettbewerb in der Amerikanischen und Sowjetischen Szientometrie gegeben. Zentral war und ist auch die Frage, wird eine immer teurere Big Science in absehbarer Zukunft überhaupt noch bezahlbar? Wie viel Wissenschaft als L’art pour l’art, als Grundlagenwissenschaft oder als Pseudowissenschaft können bzw. müssen wir uns leisten, oder muss diese Freiheit reglementiert, standardisiert oder anderweitig eingeschränkt werden? Wie viel Doppelarbeit ist tolerierbar bzw. unverzichtbar?

    Schon die Einführung der evidence based medicine war eine massive Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit für diejenigen, denen die Anerkennung ihrer Arbeit versagt wurde, weil sie den Bedingungen der evidence nicht gerecht wurden.

    Insbesondere die Digitale Bibliothek mit ihrer globalen Vernetzung, den e-Books, den e-Journals und den Suchmaschinen waren bislang der wichtigste Rationalisierungsfaktor, der die Big Science noch immer bezahlbar gemacht hat.

    Dass die Wissenschaft eines Tages mehr kostet als sie nutzt, wurde schon von D. J. deSolla Price befürchtet, hat sich aber bisher als eindeutig falsch erwiesen. Bisher treiben die reichsten Länder (bis auf unbedeutende Ausnahmen) die teuerste Wissenschaft um ihren Reichtum zu erhalten. Außerdem konnte Price damals die Ausmaße heutiger Digitalisierung nicht voraussehen.

    Um so teurer die Big Science aber wird, desto mehr geht es um die Frage der Finanzierung und des Anteils am Bruttosozialprodukt eines Landes. Je mehr Länder im letzten Jahrhundert in die Wissenschafts(treibende)gesellschaft einstiegen, um so schärfer wurde der internationale Wettbewerb um Innovationen, so dass die Globalisierung zu einer zunehmend wissenschaftlichen Arbeitsteilung am Internet-getriebenen-Fließband der internationalen Wissensproduktion zwingt. Gleichzeitig werden immer mehr wissenschaftliche Großprojekte in internationaler Zusammenarbeit vorangetrieben, weil sie von einem einzigen Land nicht geschultert werden können, und die Länder, die sich daran nicht beteiligen können, im know how zurück fallen.

    Es geht also in der heutigen Wissenschaftsfreiheit hauptsächlich um die Finanzierbarkeit. Das mag man beklagen, vermutlich muss man es beklagen, weil sich damit immer mehr Bestechlichkeit in die Forschung einschleicht, es ist aber die Krux der heutigen Wissenschaftsgesellschaft weltweit.

    Dass „die Einbeziehung kritischer und diskurs- und dissenstheoretischer Aspekte in dieses konzeptionelle Denken.“ nicht vernachlässigt werden darf, ist schon darum richtig, weil sich unsere wissenschaftliche Umwelt permanent, oft unbemerkt und trotzdem rasant ändert – durch die Digitalisierung, den Wandel zur Big Science und nicht zuletzt darum, weil die alte Vorstellung der Computer als Denkmaschinen über das semantische Netz hin zu den wissensorganisierenden intelligenten Systemen immer realistischer wird. Hier wird es folglich auch schwieriger den Aspekt der Nützlichkeit zum Aspekt der Möglichkeiten in Relation zu setzen, da sich die Möglichkeiten fast täglich erweitern und die Nützlichkeit durch die schöpferischen Zerstörungen immer rascher liquidiert werden.

    W. Umstätter

  3. Ben Kaden said, on 22. August 2011 at 13:36

    In der NZZ vom vergangenen Samstag finden sich in einem Aufsatz des in Zürich lehrenden Philosophen Michael Hampe einige Aussagen, die ziemlich nah an dem liegen, worum es auch mir ging und auf die ich daher ergänzend hinweisen möchte. So bemerkt er zur prinzipiellen Ideologisierbarkeit von Handlungsmustern:

    „Ideologien geben abstrakten Schemata in der Handlungsorientierung Vorrang vor Einsichten in konkrete Lebensverhältnisse. Wo es an Urteilskraft mangelt, springen sie mit Stereotypen wie «Konkurrenz ist gesund» oder «die Natur ist unerbittlich» in die Bresche. Religiöse Sprachen wie auch wissenschaftliche Terminologien können sich, werden sie von Verfahren der Kritik und ihrem ursprünglichen Erfahrungshintergrund abgekoppelt und dogmatisch verallgemeinert, in Ideologien verwandeln.“

    Hinsichtlich der Wissenschaft führt er aus:

    „Wissenschaftliche Theorien, die ebenfalls abstrakt und allgemein sind, revidieren sich im Unterschied zu Ideologien immer wieder – im Streben nach genaueren Erklärungen und Prognosen. Wissenschafter streben idealerweise, wie Erzähler und Poeten auch, nach Genauigkeit und sind bereit, ihre Sprache um dieser Genauigkeit willen zu ändern. Ideologien hingegen beschreiben verschiedenste konkrete Erfahrungszusammenhänge mit den immergleichen, zu Fetischen gewordenen Begriffen unter Vernachlässigung von Genauigkeitsansprüchen.“

    Die Funktion der Kritik ist also, das Gemahnen an Präzision, welches zur ständigen Neubetrachtung der eigenen Aussagen und Terminologien führt. Das Unmittelbarziel im Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion liegt dabei im Unterlaufen möglicher Ideologisierungstendenzen. Die Einsicht mag nicht neu sein, aber sie scheint mir doch wichtig genug, um immer wieder mal daran zu erinnern. Da Kritik ebenfalls eine Abstraktheit darstellt, die in – wie Walther Umstätter betont – sich „oft unbemerkt und trotzdem rasant“ verändernden Kontexten (bzw.: Erfahrungshintergründen) konkretisiert werden muss (wobei die Kritik selbst ebenfalls genauso solche Veränderungen hervorbringt), ist das Verfahren nicht durchgänigig generalisierbar. Der Maßstab der Genauigkeit muss also die Relation zwischen dem Verfahren und dem Gegenstand berücksichtigen. Er entspricht in gewisser Weise (bzw. idealerweise) einer übergeordneten Verfahrenskritik.

    Michael Hampe: Die Natur gibt es nicht. NZZ vom 20.08.2011 (Nr. 193) S.21. Volltext bei NZZ online.

  4. Ben said, on 24. August 2011 at 14:29

    Eine weitere Ergänzung bzw. Präzisierung zu dem obenstehenden Aufsatz eröffnet die Würdigung, die Christof Goddemeier zum 50sten Jahrestag des Erscheinens von Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (bzw. Folie et déraison) in der aktuellen Ausgabe (19.08.2011) des Deutschen Ärzteblatts (S. 1478-1480, Volltext) vornimmt.

    1. Einerseits eröffnet sich eine Erläuterung zum omnipräsenten Nützlichkeitsparadigma und zur Skepsis gegenüber dem Überflüssigen, wenn es heißt:

    „Aus der Perspektive einer bürgerlichen Vernunft, die sich von ihrer Nützlichkeit her definiert, ist Wahnsinn [Foucault] zufolge zuerst die „Abwesenheit eines Werks“, einer Arbeit. Untrennbar mit dem Wahnsinn verbunden ist zudem der Irrtum.“ (S.1480)

    Auch wenn wir nicht mehr unbedingt ausschließlich im Daseinshorizont der protestantischen Ethik Max Webers leben, erklärt sich durch Foucaults Ansatz doch recht schlüssig, warum Wissenschaften, denen es nicht hauptsächlich um eine Feststellung der Wahrheit, sondern um einen verstehenden Nachvollzug von Möglichkeit geht, zuweilen in Nützlichkeitsdiskursen marginalisiert werden.

    Eine spannende (und vermutlich irgendwo bereits ausführlich ausgebreitete) These für unsere spätkapitalistische Gesellschaft wäre im Anschluss daran, ob das teilweise schwer greifbare Kriterium „Wahrheit“ nicht längst im Fühlen und Denken durch das klar bilanzierbare Kriterium „Cash Flow“ substituiert wurde. Ein positiver „Cash Flow“ bedeutet Erfolg (also bewiesene Nützlichkeit), ein negativer impliziert Irrtum. Auch hier liefert Max Weber ziemlich präzise Vorgedanken. Und Videos wie dieses über einen Young Homeless College Graduate in L.A. (inklusive der Kommentare des Publikums) bieten einschlägiges zeitgenössisches Beispielmaterial. Armut und damit ein stark eingegrenztes Handlungsvermögen bildeten nach diesem Verständnis die Entsprechung zum „konstanten Irrtum“ als Kernmerkmal des Wahnsinns (François Boissier de Sauvages). Entsprechende Segregationsprozesse sind jedenfalls deutlich wahrnehmbar. Diese Kopplung des mutmaßlichen Versagens der Handlungskompetenz, sei es (beim Wahnsinn) da die Betroffenen die „Wahrheit der Vernunft“ dauerhaft verfehlen oder (bei einer sozioökonomischen Projektion) da die Betroffenen die Wahrheit der Leistungsfähigkeit, die durch entsprechenden Wohlstand gekennzeichnet ist, dauerhaft verfehlen, könnte gar dank der Bilanzkomponente ermöglichen, den Grad der jeweiligen Devianz gegenüber der Norm präzise zu berechnen. Dies entspräche einer totalisierten Kosten-Leistungs-Rechnung.

    2. Andererseits findet sich von Christof Goddemeier zitiert, was sich Foucault vor 50 Jahren unter Kritik vorstellte und was ich schon deshalb gern nachzitiere, weil ich ab und an für meinen vermeintlich laxen Umgang mit Foucaults Positionen gescholten werde:

    „[Die Kritik] häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen (…) Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie, geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.“

    Das klingt zunächst nach schöner Prosa und eröffnet danach für mich gerade keinen Widerspruch zu dem oben Ausgeführten. Das „Gewitter des Denkbaren“ nenne ich Möglichkeit, „Funken der Fantasie“ sehe ich als Gegenstück zum Löschwasser der Konvention, der Richtspruch entspräche dem nicht-prozessuralen und kontextuellen sondern dem absoluten Bewerten und „möglichst viele Existenzzeichen“ harmoniert m.E. recht gut mit der Genauigkeit, die Michael Hampe (vgl. den vorhergehenden Kommentar) von der Wissenschaft einfordert.


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