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Die Dinge in Kybernesien. Marc Schweskas aktueller Wissenschaftsroman weiß auch, wie es in Berliner Bibliotheken zuging.

Posted in Die Bibliothek in der Literatur, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 1. August 2011

Von Ben Kaden

I

In einem heute etwas wunderlich schimmernden und erstaunlicherweise auf außergewöhnlich alterungsbeständigem Papier gedruckten Handbuch in A4 mit dem Titel „Arbeitsgestaltung. Psychophysiologische Probleme bei Überwachungs- und Steuerungstätigkeiten“ aus dem Jahr 1970 liest man auf Seite 12:

„In der Tat gibt es eine Reihe äußerer Ähnlichkeiten im Prozeß der wissenschaftlich-technischen Revolution in Kapitalismus und Sozialismus. In dem Maße, wie sich die Produktionsinstrumente als Kennzeichen der industriellen Revolution gleichen, werden beispielsweise Resultate und zum Teil auch Themenstellungen bei der Untersuchung menschlicher Arbeitsleistungen unabhängig von der Gesellschaftsordnung, zumal die Anforderungsverlagerungen, bedingt durch die veränderte Stellung des Menschen im Produktionsprozeß, im sozialistischen und kapitalistischen System ähnlich sind.“

Man merkt dem Kapitel 1.1.1. Zur bürgerlichen Technikphilosophie und den folgenden Abschnitten deutlich an, wie schwer sich die Autoren Jochen Neumann und Klaus-Peter Timpe in ihrem kleinen Manifest der angewandten Regelungstechnik dabei taten, a) die Klassenproblematik überhaupt in diesem Zusammenhang zu entfalten und b) zugleich die Überlegenheit des Sozialismus herauszustreichen. Zu vertraut waren Fortschrittsoptimismus und Automatisierungsbegeisterung in beiden Systemräumen und was den Stand des Wissens anging, bewegte man sich in diesem Bereich der technischen Metareflexion noch auf relativ ähnlichem Niveau. Entsprechend hilflos wirkt dann der obligatorische Hinweis:

„Analogien im wissenschaftlich-technischen Bereich führen nicht notwendig zu Konvergenzen im ideologischen Bereich. […] Vorhandene Ähnlichkeiten, die in bestimmten Bereichen sicherlich gegeben sind, führen nur zu Schnittpunkten, nicht zu Asymptoten im ideologischen und sozialen Bereich.“ (S. 13)

Man hat fast vor Augen, wie das Autorenduo in einer langen Nachtschicht unter dem gnadenlosen Neonröhrenlicht eines Büros im Institut für Psychologie der Humboldt-Universität an diesen technikphilosophischen Problemkapitelchen herum schraubte, um den klaren ingenieurpsychologischen Resultaten und Ableitungen zur Arbeitsplatzergonomie aus den Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Professor Friedhart Klix das erforderliche ideologische Beiwerk anzufügen. Und wie es schließlich glücklich auf einen ausgeschnittenen und erst vergessenen Artikel aus der Ausgabe des kulturpolitischen Wochenblatts Sonntag vom 22.09.1968 stieß, der die Gegensätzlichkeit Sozialistische Dynamik wider Konvergenz zweckdienlich zitierbar ausrollte.

Aus der heutigen Perspektive einer Welt, in der wenigstens eine der beiden Seiten nur noch auf ihren historischen Tatsachencharakter reduziert weiterlebt, lassen sich die Argumentationslinien wie die folgende nur mit ungläubigem Amüsement lesen:

„Ein vordergründiges Argument der Konvergenztheorie besteht darin, daß die sozialistische Wirtschaft ähnliche ökonomische Prinzipien verfolgen müsse wie ein kapitalistisches Unternehmen. […] Letztlich ist die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit Gradmesser für die Bewehrung des Gesellschaftssystems und hier muß sich die Überlegenheit des Sozialismus bei der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution erweisen. Der technische Fortschritt ermöglicht erst die Erhöhung der Arbeitsproduktivtät und die Herstellung von Gütern in solchen Mengen und von solcher Qualität, daß die materielle Sorge vom Menschen genommen werden kann.“ (S. 14)

Denn das Gefälle zwischen wohlmeinendem Anspruch und materieller Wirklichkeit in der DDR wuchs sich, wie wir heute wissen, in den Folgejahren zu einer derart abschüssigen Bahn aus, dass sich diejenigen Bewohner der DDR, die einmal in einem Intershop waren oder einmal westdeutsches Werbefernsehen sahen oder gar einmal von den westreisenden Großeltern Schilderungen über die Hertie-Filiale in Herne erhielten, kaum mehr ausmalen konnten, wie sich eines Tages die sozialistische Variante der wissenschaftlich-technische Revolution auf Alltagsebene der im anderen Deutschland als überlegen erweisen wird. Also de facto alle.

So unterlag die Lebenswirklichkeit in der DDR mit ihren „Geschenksendung. Keine Handelsware“-Päckchen der permanenten, wenn auch gefilterten Vergleichbarkeit. Dass man sich von offizieller Seite derart aggressiv erklärtermaßen in einen öffentlichen Wettbewerb stürzte, gleicht einem Vabanquespiel, auf das man sich nur mit der halbblinden Naivität des Eingesperrtseins in das jeweils schmale Weltbild seiner Umstände einlassen konnte. Heute weiß man, dass es schiefgehen musste.

II

Wenn man nun das im April in der Reihe Die Andere Bibliothek erschienenen Debüt Marc Schweskas „Zur letzten Instanz“ wirklich auskosten möchte, bietet die Kenntnis der regelungstechnischen und kybernetischen Visionen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre eine genussvolle zusätzliche Verständnisebene, die zu so etwas wie einem elaborierten Sonnenallee-Effekt führt: Man erfreut sich vor allem an den zahllosen Anspielungen auf den kybernetischen Optimismus der sozialistischen Wissenschaft dieser Zeit.

Zur letzten Instanz

Zwei Kreise, ein Knick. In der Geschichte der kybernetischen Literatur erweist sich Marc Schweskas Debütroman als gelungener Ausbrecher.

Aber, dies zur Beruhigung, selbst wenn man nicht Georg Klaus‘ Kybernetik und Erkenntnistheorie gelesen hat, ist „Zur letzten Instanz“ mit einigem Gewinn lesbar. Denn Marc Schweska verlegt die Handlung ins Ostberlin des Jahres 1988 und die, die im Mittelpunkt stehen, sind die Kinder der Klausens, Klixens und Timpes. Sie werfen einen sehr ernüchterten Blick zurück auf die teils am System, teils an der Ambition gescheiterten wissenschaftlich-technischen Ideen und Befreiungsideale ihrer Väter und bewegen sich dabei recht freimütig auf einem schmalen Grad durch die Wirklichkeit der Endzeit-DDR. Dabei erinnern sie sich ausführlich an den Ausgangspunkt dieses Denkens und ziehen ansonsten, wie man so schön sagt, ihr Ding durch, soweit es unter diesen Umständen eben geht. Und dieses Ding ist die kreative Ausnutzung der Informationstechnik, womit der höchst originelle Wissenschaftsroman in gewisser Weise eine Linie von Norbert Wieners Urinspiration zu Aaron Swartzen Websubkulturen zieht und eine etwas fantastische, aber gerade noch so als möglich hinnehmbare Erzählung eines spezifischen Milieus als stecknadelköpfige Markierung in den Zeitstrahl sticht:

„Nicht lange und die Daten würden ihr zweidimensionales Gefängnis verlassen, aus Akten, Ordnern und Archiven heraustreten, Schreibtische und Bürotürme fluten, um ein Kybernesien zu erschaffen, einen drei-, nein, vierdimensionalen Datenraum, den man wie eine Stadt begehen, wie die Natur erforschen und erobern könnte, eine neue, weltumspannende Kolonie, die Menschen, Geister und Engel bewohnen würden.“ (S. 62)

Die Träumerei des alternden Statistikers Ehrlich (Vater einer rebellierenden und bald gen Westberlin flüchtigen Tochter) in seiner Plattenbauwohnung über dem Thälmannpark zehn Radminuten und von seinem Arbeitsplatz im jetzt nur noch auf den Abriss wartenden Haus der Statistik beim Alexanderplatz entfernt knüpft nicht nur (vermutlich unwissentlich) einen Faden zu Rafael Capurros Angeletik-Motiv, sondern bietet auch einen blinkenden Anschlusspunkt, auf den sich die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Ethnografie des digitalen Raums – auch bekannt als WWW und hier benannt als Kybernesien – orientieren könnte. Es fehlt der Disziplin bisher einzig ihr Lévi-Strauss, der sie als semiotischen Kulturraum durchforscht und ihre mitunter traurigen, manchmal auch skeptischen Tropen (Tropoi) beschreibt. Es bleibt freilich die Frage, ob sich eine Wissenschaftsdisziplin bei ihrer Programmplanung von der nicht selten mit größerer Sprungkraft und gröberem Ausspielen des Denkbaren ausgestatteten Literatur inspirieren lassen darf.

III

Abgesehen davon ist die Kybernetik ein faszinierendes Elementarkonzept mit einem durchaus aktuellen Grundverständnis. Georg Klaus zitiert in seinem 1965er Standardwerk einen westdeutschen Kollegen mit einer interessanten anthropologischen Abschätzung:

„Karl Steinbuch […] schreibt über die künftigen Auswirkungen der Kybernetik: ‚Diese Einflüsse auf das zukünftige Leben werden nicht immer leicht zu tragen sein. Leib und Seele des Menschen taugen zum Sammeln, Jagen, zum Ackerbau und auch noch zu einem Handwerk. Die Existenz zwischen Automaten ist für uns unnatürlich. Wir müssen Lebensformen suchen, mit denen wir auch in dieser unnatürlichen Umgebung seelisch und körperlich gesund blieben. Hierzu dürfen wir uns nicht von der unvermeidlichen Entwicklung abkapseln, sondern wir müssen uns offenen Auges und wachen Sinnes der Zukunft stellen.‘“ (Klaus 1965, S. X)

Hoffentlich mit argem Bauchgrimmen setze er nachträglich die Pro-Forma-Legitimation des Zitats an:

„Wir halten diese Fragestellung für berechtigt und notwendig, identifizieren uns aber nicht mit dem in ihr anklingenden Pessimismus. Diese Fragestellung hat – und das macht, obwohl sie formal gleich lautet, den Unterschied aus – in einer kapitalistischen Umwelt einen anderen Charakter als in einer sozialistischen.“ (ebd.)

In der spätkapitalistischen Umwelt des Jahres 2011 mag man nun schmunzelnd auf die scheinbare Naivität beider Aussagen schauen. In einer aktualisierten Form bleibt die erste aber gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung von Belang, denn wir, die wir uns professionell damit befassen, tun nichts anderes, als über das Wie der Gestaltung einer maschinenverarbeiteten und viel allgemeiner greifenden Kommunikationsumwelt nachzudenken und zu entscheiden – beispielsweise wenn wir etwas entwickeln und umsetzen, was wir Digitale Bibliothek nennen. Dass der Diskurs darüber nicht mehr derart schlichten Schemata folgt, sondern, wenn er gut gestaltet ist, ganz raffiniert andere Bezugspunkte wählt, ist allerdings ein Fortschritt. Wie problemlos aktualisierbar bestimmte Entwicklungen sind, zeigt sich u. a. in Ehrlichs Vision einer Variante des gläsernen Menschen, wie sie derzeit heftig im Kontext von digitalen Sozialen Netzwerken wie Google Plus oder Facebook und der allgegenwärtigen Anschließbarkeit an diese über mobile Endgeräte diskutiert wird:

„Sie würden wissen, an welchen Orten er sich aufhielt, an welchen Orten er sich bewegte und welchen Rhythmen er folgte. Sie würden sein Identität, seine Wandlungen, Träume und Absichten entschlüsseln, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besser kennen als er selbst nach strengster Selbsterkundung und nüchternster Bestandsaufnahme.“ (Schweska, S. 65)

Reduziert man das Gemenge aus Erfassungsziel und -analyse auf das Informations- und Konsumverhalten, erhält man recht präzise den Kern so genannter Empfehlungssysteme definiert. Pikant wird das, wenn man realisiert, dass der Aufklärungsgedanke Ehrlichs buchstäblich ist und nämlich auf einen „vielgestaltigen und vielarmigen Feind“ gerichtet ist. Die Doppelgesichtigkeit der an sich neutralen Technik liegt in ihren vielfältigen Gebrauchsmöglichkeiten, was uns zu Neumann und Timpe zurückbringt. Oder voran in die Zukunft der unsere physische Lebenswelt rundum ergänzenden Digitalosphäre:

„Und wieder wäre ein Menschheitstraum in Erfüllung gegangen, die Prophetie gewissenhaft als Technologie aufbereitet. Man würde nicht mehr hadern mit allerlei üblen Überraschungen auf der Zeitachse, sondern sachlich die vierte Dimension, die Zeit, in Dienst nehmen. Weitere Dimensionen könnten folgen. Auch operierte man nicht mehr mit umständlichen Ganzheiten und heiklen Identitäten. Vielmehr würde man sie in ihre Bestandteile auflösen, bis hinunter zu Neuronen und Synapsen. Mit denen ließ sich einfacher verhandeln. Der kybernetische Datenraum würde nicht ein schlichtes Abbild des Lebens seins, vielmehr seine Steigerung, ein Metaversum, welches das sattsam bekannte unzulängliche Universum in eine verbesserte, gereinigte Ausgabe überführte.“ (ebd.)

Also den Luna-Park eines vollindexierten post-ontologischen Semiokosmos mit möglichst wenig Rauschen und einem Larry Page-Rank, der entscheidet, was nicht-übel ist.

IV

Was an Marc Schweskas Buch vor allem deutlich wird, ist, wie Literatur als Kulturspeicher funktioniert. Sechstausend Exemplare und damit eine mutmaßlich ähnliche Menge LeserInnen erinnern nun halb ausgestorbene Formulierungen wie „Schutzkontaktstecker“, Kinderspielzeuge namens „Stabilbaukasten“, Unterrichtselemente wie „Feilen nach Anriss“ (aus dem einem Unterrichtsfach namens Produktive Arbeit) und die schnittige Bezeichnung LSD-Quartier für ein Karree im Prenzlauer Berg (Lychener Straße, Schliemannstraße, Dunckerstraße).

Von Ehrlichs kybernetischem Datenraum war das Ostberlin des Jahres 1988 allerdings soweit entfernt wie die Bibliothekswelt seiner Zeit vom Digitalen. Zwei längere Textstellen im Buch bestätigen, was man natürlich ohnehin wusste, aber vielleicht noch nicht so schön formuliert im Kontext einer Geschichte kannte. So unternimmt der Protagonist Lem(ania) Pircks im Kapitel „Auf dem Umweg“ (S. 223-237) einen Ausflug in die Humboldt-Universität (Hörsaal 2094/06) und man entdeckt die Dorotheenstraße als hinteren Zugang, über den die Figur das Gebäude betritt und der damit einen kleinen aber ärgerlichen chronologischen Fehler markiert, es sei denn Lem referenzierte als nostalgischer Bewunderer der brandenburgischen Kurfürstin Dorothea auf die Zeit, in der Artur Schopenhauer regelmäßig diesen Weg ging. Zur Spielzeit des Romans erinnerte der Straßenname nämlich an Clara Zetkin. Im besagtem Hörsaal liest im Roman ein querschlagender Ernst-Bloch-Schüler namens Lore Philosophiegeschichte und erfreut sich daher enormen Zuspruchs des erkenntnissüchtigen Grenzgänger-Milieus der jungen Hauptfiguren des Buches. Und als ebenso schwer zugänglich wie die Publikationen Lores („Einen Teil der Texte kopierte Kompass [eine weitere Figur des Romans] handschriftlich in der Staatsbibliothek.“, S. 225) erwiesen sich auch andere philosophische Grundlagenschriften. Um dies zu unterstreichen schildert Marc Schweska wunderbar den Bibliotheksnutzungsalltag anno 1988:

„Als Universitätslehrer besaß Lore natürlich Zugang zu Quellen, die Studenten verschlossen blieben. Manchmal warteten sie vor der hölzernen Sperre der Institutsbibliothek auf ihre Bände wie auf eine sich einmal erfüllende, ein anderes Mal verweigerte Gnade. Über das Verbotene, im Giftschrank gelagerte hinaus blieb der Zugang zum Wissen ohne Wegweiser schon schwierig genug. Rasch vergingen die knappen Stunden, die man in alten wie musealen Bibliothekskatalogen verlor, die älteren noch handschriftlich und in Lederfolianten gebunden, die Lücken nicht zu vergessen, die die Kriegsverluste gerissen hatten, und gar nicht selten waren die Karteikarten mit Kriegsverlust oder Vermisst gestempelt, dem mühsamen handschriftlichen Ausfüllen der Bestellscheine, bevor eine Zeile geschrieben war. Kurzum, ein Bibliotheksbesuch entwickelte sich rasch zu Zettels Albtraum.“ (S. 231)

Es liegen fast zweieinhalb Jahrzehnte zwischen der geschilderten Zeit und der unseren und das Faszinierende daran ist, dass ein Großteil der aktuellen Generation von Studierenden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zur geschilderten Zeit geboren wurden, sich aber in seltensten Fällen (selbst als späte DDR-Kinder) die Tatsache einer solchen Zugangsbeschränkung wenigstens als frühkindliche Erinnerung bewahrt haben dürfte. Im Normalfall ist die informationale Welt dieser Kohorten von einer Überverfügbarkeit an Materialien geprägt. Möglicherweise erklärt sich das ambivalent-ehrfürchtige Empfinden älterer bibliothekswissenschaftlicher Akteure gegenüber dem Medium Buch gerade aus Erfahrungen wie der geschilderten: Zu einem knappen Gut geworden, zumal zu einem, für dessen Einsichtnahme man Stunden der Recherche und des Wartens aufwenden musste, erhält es automatisch einen anderen Stellenwert. Gerade albtraumatische Erfahrungen mit Leihzetteln vergisst man nicht so leicht.

Auch an dieser Stelle zeigt sich „Zur letzten Instanz“ als hervorragender Kulturspeicher, der die Nutzungsformen der Institutsbibliotheken genauso konserviert, wie die möglicherweise tatsächlich in den 1980er noch gültige Aussage „Natürlich konnte man an der Humboldt-Universität Nicolai Hartmann voraussetzen […]“ (S. 232) Dereinst ging man aber auch für ein Eis noch in die Mokke gegenüber vom Café Moskau und wusste aus der Wehrdienstzeit bei der NVA, was der Befehl 17/1 (bzw. 17b) wirklich meinte.

V

Das zweite Bibliotheksszenario invertiert in gewisser Weise das erste, denn in ihm erfährt man, wie man Berliner Bibliotheken gerade als Zugang zum Untergrund nutzen konnte. Diesmal allerdings nicht zum intellektuellen Durchklettern der Welt, sondern zum explorativen Eindringen in den Mont Klamott (die grüne Beule „mitten in der City/zwischen Staub und Straßenlärm“ – wie es in Sillys Lied zum Schuttberg heißt, das nebenbei in der Zeile „dort hängen wir zum Weekend“ mittlerweile einen doppelten Sinn ergibt, denn der gleichnamige Überclub und damit das andere Dach von Berlin am Alexanderplatz liegt tatsächlich unweit Richtung Südwest.)

Dieser zur Parkanlage aufgegrünte Trümmerberg birgt (buchstäblich) eine Bunkeranlage und damit einen verborgenen Raum im Zentrum einer doch ziemlich durchschauten und durchschaubaren Lebenswelt, der nicht reguliert, wohl aber verschüttet war. Im kleinen Team graben sich Lem Pircks und seine Freunde in den Berg und in die Ruine des Luftschutzbunkers und finden dort neben einer „Flasche Schultheiß, wie man sie nur aus dem Museum kannte“, Blechspielzeug und einer Fledermauskolonie immerhin den Rest einer Dechiffriermachine, den sie für ihre Leiterplattenexperimente zu benutzen planen. Einen größeren Nachhall über den Eskapismus hinaus hinterlässt die Eskapade jedoch nicht. Dafür ist die Vorbereitung interessant:

„Wochenlang hatten sie die Aktion vorbereitet. In den hellen Räumen der Stadtbibliothek und den dunklen Verließen der Staatsbibliothek studierten sie alte Stadtpläne, verglichen Fotografien, lasen Werke der Bunkerarchäologie und Beschreibungen von Augenzeugen. Den Bibliothekarinnen gegenüber gaben sie sich als Arbeitsgemeinschaft Heimatkunde, Gruppe Kieztauchen aus, interessiert am Thema »Geschichte als Auftrag«, »Archäologie des Fortschritts« oder etwas dieser Art. Dabei schnitten sie so deprimierte Gesichter, dass keine Reserve an brachliegender Mütterlichkeit genutzt blieb.“ (S. 316f.)

Konserviert ist in diesem Textabschnitt mehr als im Bunkerraum. Da wäre zunächst der Gegensatz zwischen Stadtbibliothek (hell) und Staatsbibliothek (dunkel), der sich noch immer nicht ganz verflüchtigt hat, wobei der Lesesaal der ZLB mit seiner Inneneinrichtung selbst vermutlich noch ein authentischeres Zeugnis dieser Jahre gibt. Weiterhin bewahrt der Text die weithin in der DDR verankerte Praxis der Arbeitsgemeinschaften, die zum Schulalltag gehörten und deren Sitzungen sich dort mittwochs mit so genannten Pioniernachmittagen abwechselten. Nachschulisch konnte man in solchen Gruppen das bündeln, was in Westdeutschland durch das Vereinswesen abgedeckt wurde: Das Verfolgen bestimmter Neigungen auf hobbyeskem Niveau. Die AG Heimatkunde-Kieztauchen gab sich als Legitimation für ihre Recherchen ein dem System entsprechendes Motto und mimte – taktisch nicht unklug – den Ausdruck einer leichten Gezwungenheit, der ihnen die Herzen der Bibliothekarinnen und damit die notwendigen Quellen erschloss. Wie glaubhaft dieses Vorgehen tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. Aber wenn man an Simon Menners reichlich grotesk anmutende Stasi-Archiv-Installation, dann traut man der DDR noch viel mehr zu.

VI

Das Geheimnis überzeugender erzählender Literatur liegt bekanntlich nicht darin, dass das Geschilderte irgendeinen Bezug zu tatsächlichen Ereignissen und Gegebenheiten aufweist, sondern, dass es selbstbewusst so auftritt, als hätte alles zweifellos so geschehen können. Fiktion ist immer auch eine gelungene Schwindelei. Marc Schweskas Buch ist unter dieser Voraussetzung eine Art Erinnerungs- und Heimatroman für alle, die sich noch an das Magnettonbandkassettenfiepen des KC 85 erinnern. Und daran, dass Informatik auch einmal direktes Hardware-Handwerk war. (Mit Bedacht widmet Marc Schweska sein Buch „Allen Lötern“.)

Für alle anderen ist es ein panoptischer Lebensweltroman von Figuren eines spezifischen Milieus der DDR, wobei es sich nicht um Regelkreise handelt, sondern um eine eigenartige Schnittmenge von wissenschaftlicher, künstlerischer und vor allem informatischer Boheme. Formal bewegt sich der Text mit seinem sprunghaften Collagenstil durchaus auf der Höhe unseres aufs Fragment gerichteten Rezeptionsverhaltens. Daher hat man aber auch eher einen anblitzenden Licht- denn einen mitreißendem Spannungsbogen vor sich, wobei die Rahmenerzählung nur eine grobe Naht um das Ganze zieht.

Für uns ist der Roman aber ohnehin aus anderen Gründen vorrangig von Interesse: Als kybernetisch-informatische Fiktion repräsentiert er das Literatur gewordene Ideenarchiv einer wenig beachteten Forschungstradition. Dass sich sogar eine frühe Form des Open Access-Gedankens findet, kann man noch als Bonus verrechnen. So wird eine Hauptfigur mit einer ganz spinnerten Einstellung zitiert:

„ […] Der Lehmann folgt ja der Maxime, dass die Wissenschaft allen Menschen gehört, dass es echten Fortschritt nur gibt, wenn der freie Verkehr der Gedanken gewährleistet ist.“ (S.282)

In der DDR der letzten Instanz ging es allerdings nicht um die Hürden des Wissenschaftsmarktes, sondern um die Barriere der Zensur, die den freien Zugang in einer Form blockte, welche am Ende vergleichsweise zielstrebig in das Scheitern der ambitionierten Wissenschaftsprogramme führte. Was irgendwie zu Neumann und Timpe und ihre Analyse der Konvergenztheorie zurückführt.

Literatur

Klaus, Georg (1965): Kybernetik und Erkenntnistheorie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Neumann, Jochen; Timpe, Klaus-Peter (1970): Arbeitsgestaltung. Psychophysiologische Probleme bei Überwachungs- und Steuerungstätigkeiten. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Schweska, Marc (2011): Zur letzten Instanz. Frankfurt/Main: Eichborn (Informationen zum Titel beim Verlag)

Eine Antwort

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  1. […] Zur Einführung sei auf die Besprechung von Ben Kaden zum Buch verwiesen: Die Dinge in Kybernesien. […]


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