Der Faktor Evidenz. Überlegungen zur Methodendiskussion in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft.
(Referat zu Alex Garnett (2011) Opinion: Information Science as Knowledge Translation. In: Bulletin of the American Society for Information Science and Technology. June/July 2011. S. 50-53 )
I
Nimmt man die evident hohen Download-Zahlen als Maßstab, dann ist ein erhebliches Interesse an der Diskussion zum Stand zur Informationswissenschaft festzustellen. Inwieweit sich die Frage nach der disziplinären Positionierung tatsächlich in der Fachcommunity als Thema erhält, ist derzeit offen. Aber man blickt erwartungsvoll den nächsten Ausgaben der entsprechenden Fachorgane entgegen. Bis diese erscheinen kann man allerdings auch die Juni/Juli-Ausgabe des Bulletin of the American Society for Information Science and Technology zur Hand nehmen bzw. ins Browser-Fenster laden.
In dieser reflektiert der kanadische Bibliometriker Alex Garnett in einer kurzen Positionierung zur Methodendiskussion Erkenntnisse zur so genannten Knowledge Translation, also einem Community-übergreifenden Wissenstransfer, wie er ihn in der Medizin beobachtet, auf das gesamte Feld der Library and Information Science. Genau dieser Aspekt sollte seiner Ansicht nach ins Zentrum der Bibliotheks- und Informationswissenschaft und ihrer Methodologie rücken. Und zwar in Rückgriff auf Verfahren der evidence based practice, was sich im Ergebnis vor allem als methodisch breit aufgestellte Zusammenziehung von realexistierenden Bedingungen und der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Metabetrachtung herausstellt.
II
Garnett betont die Wurzeln der Dokumentation, relativiert selbige aber sofort wieder. Angesichts ihres Zuschnitts auf bestimmte Bereiche einer Fachkommunikation durchdringen sie nämlich nur einen Bruchteil der aktuellen Wissensökonomie. Der aus diesen sprießende Baum bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Erkenntnis verfügt aber über denselben stabilen Stamm: Es geht darum, die Kommunikation von Wissen zu koordinieren und zu organisieren.
Wichtig ist dabei zunächst die begriffliche Differenzierung, die im deutschen Konzept der Wissenschaftskommunikation häufig verwischt. Im Englischen liegen zwei distinkte Kommunikationsphänomene vor: Die so genannte scholarly communication innerhalb einer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft, wie sie sich über Fachpublikationen, Kongresse, etc. vollzieht und die für Community selbst konstitutierend und konsolidierend wirkt. Eine Wissenschaftsgemeinschaft erzeugt sich vorwiegend über ihre interne Kommunikation. Dem gegenüber findet sich die so genannte science communication, die die wissenschaftlichen Resultate aus der Community heraus z. B. für die Öffentlichkeit übersetzt. Der Wissenschaftsjournalismus liegt beispielsweise exakt in diesem Feld. Im Ergebnis muss auch diese Kommunikation gelingen, denn Wissenschaft als gesellschaftliches Funktionssystem wird in gleicher Weise durch die außerwissenschaftlichen Adressaten dieser Kommunikation (u. a. durch die Forschungs- und Förderpolitik vermittelt) gestaltet.
In diesem Zusammenhang stellt Alex Garnett (am Beispiel der Biologie) eine doppelte Rolle für Information Professionals fest:
„Our role is arguably bisected at either end of the science communication engine: information scientists observe the interaction patterns of the biologists before they encounter the journalists, and library practitioners strive to make the journalists’ discourse accessible by various publics.”
Etwas abstrahiert bedeutet dies einerseits, dass es notwendig ist, die Kommunikationsprozesse und -konventionen innerhalb der Fachgemeinschaften zu kennen und zu verstehen. Andererseits ist es notwendig, die extrawissenschaftliche Rezeption und Verarbeitung dieser Erkenntnisse ebenfalls im Blick zu behalten. Die Verengung des Gedankens auf die Gruppen der Fachwissenschaftler und besonders der Journalisten scheint mir weniger sinnvoll. Man könnte auch einfach sagen, dass die wissenschaftliche Erkenntniss, die es zu kommunizieren gilt, den Ausgangspunkt markiert und wir von diesem aus alle Pfade zu betrachten haben, über die diese Kommunikation ihre unterschiedlichen Adressatenkreise zu erreichen versucht.
III
Die verfahrensmethodologische Nähe der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zur Medizin ergibt sich für Garnett aus der Tatsache, dass hier wie dort Theorie und Praxis äußerst griffig miteinander verzahnt sind sowie aus der prinzipiellen Übertragbarkeit der evidence-based practice. Er führt also praktisch vor, worum es ihm theoretisch geht: eine diffusion of innovation im Sinne eine adaptiven Übernahme methodischen Wissens. Die Idee der evidence-based practice hat dabei seit ca. dem Jahr 2000 in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft eine gewisse Tradition (und eine eigene Open-Access-Zeitschrift Evidence Based Library and Information Practice) entwickelt.
Der evidenzbasierte Ansatz rückt den Einzelfall einer Entscheidung (z.B. einer Therapie) ins Zentrum des praktischen Vorgehens und bezieht alle relevanten Informationen auf dem jeweils aktuellsten Stand in die Entscheidungsfindung ein. Eigentlich geht es in der theoretischen Durchdringung evidenzbasierter Verfahren vor allem um Möglichkeiten zur spezifischen Systematisierbarkeit empirischen Wissens. Das kommt einem natürlich aus dem Umfeld des Wissensmanagements sehr bekannt vor. Auch im evidenzbasierten Ansatz führt der Weg vom Besonderen (und Tatsächlichen) zum Allgemeinen, denn die Dokumentation einer Lösung kann selbstverständlich als Best-Practice-Lösung genauso in ähnlichen Konstellationen als verallgemeinerte Orientierung dienen. Interessanterweise scheint es nicht ganz einfach, zu benennen, woraus nun so ein Evidenzmerkmal besteht. So drückt sich Denise Koufogiannakis in ihrem Aufsatz What is Evidence? nicht unbedingt sehr präzisierend aus, wenn sie schreibt:
“Evidence is shown to us every single day – as we practice our profession, we learn what works and what doesn’t in certain situations.” (in: Evidence Based Library and Information Practice. 2/2011. S. 1-3. – PDF-Download)
Ich glaube, die Linie der Abgrenzung verläuft zwischen dem erfahrenen Tatsächlichen und dem abstrakten Hypothetischen sowie einer Verschmelzung von explizitem und implizitem Wissen der handelnden Akteure. Wenn man aber bedenkt, wie hoch die Konzentration auf Hypothesen beruhender Interpretation bei der Erkenntnis vermeintlich glasklarer Wirklichkeit ist, überblickt man leicht die Grenzen der Anwendung eines medizinischen Handlungsmodells auf ein wissenschaftliches Diskursfeld, welches eben nicht mit dem Mapping von körperlichen Ideal-Dispositiven und Abweichungen auf eine weitgehend allgemeingültige Klassifikation (ICD) erschlossen werden kann. Beim Versuch einer allgemeinen Konzeptionalisierung dürfte naturgemäß ein großer Rest Grauzone bleiben.
Dennoch ist die Idee so faszinierend wie befruchtend und dass evidence based librarianship in spezifischen Zusammenhängen der Bibliothekspraxis gut zu funktionieren scheint, bestätigt diese Wahrnehmung nur erneut. Die Übertragung auf das Bibliotheks- und Informationswesen überrascht also höchstens dahingehend, dass man sie nicht eher vollzog. Denn die evidenzbasierte Informationsvermittlung bedeutet nichts anderes als die Verbindung von punktgenauem Retrieval und situativer Informationsaufbereitung in demselben Anwendungszusammenhang. Dass die medizinische Dokumentation maßgebend für Erfolg und Durchsetzung der evidenzbasierte Medizin war, liegt vor diesem Hintergrund offen auf der Hand: Nur der schnelle Zugriff auf die richtigen Materialien führt auch zur adäquaten Behandlung.
IV
Die Übertragungsanspruch Garnetts, so wie ich ihn verstehe, zeigt sich nun darin, dass das Kriterium des Erfolgs (also einer empirischen Evidenz) einer medizinischen Behandlung als Methodenbaustein generell auf kommunikative Handlungen angewendet wird: Welche Art von Erkenntnis oder Wissen wurde erfolgreich a) innerhalb einer Gemeinschaft und b) aus der Gemeinschaft heraus vermittelt? Bei welcher gelang dies nicht? Und welche Gründe kann es dafür geben? Damit lassen sich Kommunikationsprozesse über eine schlichte Matrix evaluieren. Wird diese dauerhaft als Werkzeug zur Eigenbeobachtung in einem Kommunikationssystem angewendet, ist eine nachhaltige Systemverbesserung zu erwarten. Während bislang eine derartige Metakommunikation vor allem in Krisensituationen aufzutreten schien, könnte man mit solchen Mitteln, so eine erweiternde These des Ansatzes, womöglich bereits der Entwicklung von Krisensituationen vorbeugen.
Obschon Garnett ausdrücklich jede eventuelle Forderung danach, dass sich die theoretische, Hypothesen formulierende und prüfende Bibliotheks- und Informationswissenschaft nur über empirische Tatsachen ausrichten sollte, zurückweist, betont er doch recht nachvollziehbar, dass die Einbeziehung evidenzbasierter Ansätze durchaus Vorteile mit sich bringt. Während ich gleichfalls eine mögliche Rolle als Leitparadigma eher skeptisch sehe, anerkenne ich ohne Zögern ihr Potential als Erweiterung des Methodenspektrums der Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Jedenfalls wenn dies bedeutet, greifbarere Einsicht in den extrawissenschaftlichen Wirkungsraum der hier erzeugten Erkenntnis zu erlangen.
Einen Ansatz für die praktische Umsetzung sieht Garnett in der Erweiterung der Szientometrie als Baustein einer analysierenden Beobachtung von Prozessen des Wissenstransfers:
„By the same token, information science might just as easily observe the process of knowledge translation in other disciplines. The idea of measuring the process of scholarly communication is not at all foreign to those who engage with scientometrics, but this research seldom takes a full view of the knowledge ecosystem (due admittedly in part to the limitations of scientometric data).”
Ob es nun fachdisziplinäre Kommunikationen der Anderen oder der Bibliotheks- und Informationswissenschaft sind, kann an der Stelle eigentlich gleichgültig sein. Entscheidend scheint mir die Erweiterung über die szientometrische Ausmessung hinaus. Dafür sieht Garnett unter anderem Anknüpfungspunkte bei der Sozialen-Netzwerk-Analyse (SNA). Als stärker geistes- und sozialwissenschaftlich sozialisierter Akteur würde ich noch die Diskursanalyse hinzufügen, zumal drei methodische Pfeiler mehr Stabilität und Aussagekraft versprechen.
Ob dieses Versprechen auch gehalten wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie die Übertragung des Wissens zwischen der bibliometrischen/szientometrischen Schule, der Schule der Sozialen Netzwerkanalyse sowie der Schule der Diskurstheorie und vielleicht der Hermeneutik gelingt. Vermutlich sind auch noch die Semiotiker der Disziplin als fünftes methodenprägendes Glied einzubeziehen, wenn man den gesamten Facettenreichtum der Bibliotheks- und Informationswissenschaft aktivieren will.
Den alle verbindenden Konsens fasst Garnett in einem Satz in seinem Abschlussparagraphen zusammen:
„It is important to remember that while library and information science is not the only research community to face a KT schism, we are almost certainly the most eager and able to understand the meta-scientific processes that influence the uptake of research.”
Hier wird jeder zustimmen. Wir sollten das nur vielleicht stärker sichtbar werden lassen. Und genau dazu bedarf es methodologischer Meta-Diskussionen zum Stand von Bibliotheks- und Informationswissenschaft.
Der Beitrag von Alex Garnett zeigt den Übergang von der Dokumentation, über die Informationswissenschaft zur evidence based information bzw. zur Verarbeitung begründeter Information und Wissensorganisation, wie sie sich aus der Medizin (evidence based medicine) heraus auch im Bibliotheksbereich (The Journal of evidence-based library and information practice) manifestiert. Dabei geht es ihm hauptsächlich um die “diffusion of innovation” als „knowledge translation“, also die praktische Anwendbarkeit von Wissen, so wie sie schon Harnack, Ranganathan, Krüss u.a. durch Bibliotheks- bzw. Dokumentationsarbeit anstrebten. Dass sich die Methoden, durch die heutige Technologie grundlegend verbessert haben ist unübersehbar, und sie erfordern auch ein neues Nachdenken über Information, Semiotik, Wissen und Bewusstsein.
[…] in Bibliothekswesen und Bibliothekswissenschaft, aber es wird durchaus diskutiert. (u. a. auch im LIBREAS-Weblog) Das Handbuch “Evidence-based practice for information professionals: a handbook” von […]