It’s the frei<tag> Countdown. Noch 8 Tage.
„Some things happen for no good reason. And then other things happen and suddenly you have a chain of craziness on your hands, and sometimes it can’t be controlled. The craziness swarms all over you.“ (Hunter S. Thompson / Better than Sex. – New York : The Random House Publishing Group, 1994, p. 29)
In den frühen 1990er räumte eine junge WG aus Ex-Studenten, die nach Berlin verzogen waren, die Ladenwohnung, über der sie wohnten, aus. Nicht viel. Sie zimmerten einen kleinen Tresen, gaben dem Ort eine trendy Namen und eröffneten ihre Bar. Es war ein netter Platz zum Trinken. Niemand störte. Alle, die wir dort tranken, taten das gleiche für unseren Lohn: Schreiben und Nachdenken. So sagten wir zumindest. Vor der Ladenwohnung wehte der Wind der Spree. In den Sommerabenden war es nicht zu kalt, denn die Wohnung lag auf einem leichten Hügel.
Als ich meine Stelle antrat fand ich die Bar noch so vor, später begann die WG anzubauen und einen Brunch anzubieten – den ganzen Tag. Wann immer wir Zeit fanden von unseren Schreibtischen zu verschwinden, machte uns die WG Brunch. Es war kein schlechtes Leben, für die meiste Zeit. Berlin, bevor der Sturm losbrach, der uns veränderte, aber nicht wirklich die Stadt.
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Am Freitag Morgen rief ich meinen alten Freund im Ministerium an, Mr. Niceguy, immer am Arbeiten, außer wenn er „mit zwei Beutel Gras, fünfundsiebzig Kügelchen Meskalin, fünf Löschblattbögen extrastarkes Acid, einen Salzstreuer halbvoll mit Kokain und ein ganzes Spektrum vielfarbiger Upper, Downer, Heuler, Lacher … sowie einen Liter Tequila, eine Flasche Rum, eine Kiste Bier, einen halben Liter unverdünnten Ether und zwei Dutzend Poppers“ (seine Worte) durch die Straßen der Provinz raste, auf der Suche nach einer Story oder einer Akte, die auf dem Weg zwischen Schwerin und Dresden verschwunden war. Sein Anwalt begleitete ihn. Meistens.
„Was gibt’s Doc?“, fragte er, schon wieder auf dem Sprung. Ich ließ mich nicht abwimmeln, niemals ließ ich mich abwimmeln. Immerhin waren wir hier unter Professionellen.
Ich: „Gib mir Zahlen, Daten. Die Story schreibt sich nicht von allein.“
Er: „Welche Story, Doc. Seit wann muss ich dir helfen?“
Ich: „Du verdammter… lass mich jetzt hängen und ich schicke dir einen gehängten Kojoten auf einem röhrenden Motorrad, der dich kreuz und quer über alle Straßen der nächsten Wojewodschaft zieht. Deine Zahlen.“
Er: „Was immer. Rund 8.500 Öffentliche Bibliotheken, inklusive fast 6.000 Zweigstellen. In fast allen Schulen Schulbibliotheken.“
Ich: „Das ist nicht Deutschland.“
Er: „Und über 1.200 Wissenschaftliche Bibliotheken, Tendenz wachsend. Obwohl man das nicht so richtig abgrenzen kann, die eine Art Bibliotheken von der anderen.“
Ich: „ Gottverdammt Johnny. Das ist doch nicht Deutschland.“
Er: „Richtig, Doc. Was soll ich mit deutschen Zahlen, wenn du mich in Warszawa anrufst?“
Zwei Stunden später jagte ich in Richtung Słubice. Anita neben mir, lachend, lesend. Wenn es eine Story gab, musste ich sie haben. Wenn es eine Forschungsfrage war, musste ein Projektantrag geschrieben werden.
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Die traurige Wahrheit ist, dass ein Ziel fehlt, auf das wir hinarbeiten würden. Vielmehr scheinen wir immer kleine Dinge zu tun, aber nicht weiter zu kommen. Als würden wir es nicht wollen, als würde es letztlich egal sein. Es ist ja nicht umsonst so, dass niemand darauf hört, wenn jemand etwas sagt. Man könnte auch zuhause bleiben und die Spiele sehen. Als wäre die Hoffnung der letzten Generationen untergegangen.
Ich war lange genug unterwegs, in namenlosen Hotelräumen, mit geborgten Laptops, teilweise Schreibmaschinen, weil niemand sonst mit ihnen arbeitet. Auf den meisten Straßen vor den Hotels passiert nichts. Keine Geschichten, nur Momente zum am Fenster stehen und zu sinnieren, was wir alle einmal wollten.
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Wir waren 12. Einige Tage nach dem großen Breakdown, dem Tag der großen Versprechungen, der in schwerer Enttäuschung und drei Nächte voller Delirium führte. Wir alle sahen Flugzeuge und fliegende Menschen. Jetzt behauptete MacGovern das Blaue vom Himmel herunter, rief uns zusammen, damit wir alle zurückführen in die Stadt. Die Stadt, die wir Hals über Kopf verlassen hatten. Es war, als könnte er seine Niederlage nicht eingestehen. Nach den unerwarteten Gewinnen zu Beginn der Kampagne und den strategischen Planungen, die wir uns irgendwann doch zutrauten, war er nicht bereit zurück zu stecken.
Ich sah ihn immer noch allein stehen an dem Buffet in dem gottverlassenen Hotel, weit draußen, in der Servicewüste. Allein, während die Presse vor der Tür stand und nach ihm Ausschau hielt, alle nach ihm Ausschau hielten. Einsam, in gewisser Weise verzweifelt, nicht halb der leuchtende Held auf dem weißen Pferd, für den er einige Monate später gehalten wurde. Das war das Bild von MacGovern, dass sich eingebrannt hatte, wie Daten auf einer Steintafel. Bei mir. MacGovern aber schien sich nicht erinnern zu wollen.
Man vergisst zu schnell, offenbar, was der ursprüngliche Plan war. Dieser Plan war gescheitert. Auf vier Jahre, vielleicht mehr waren wir anderen Chefs ausgesetzt.
MacGovern hingegen strahlte eine ungewohnte Ruhe und Zielstrebigkeit aus. „An diesem Tag, an diesem Platz“, so sprach er – und ich konnte noch nicht einmal wirklich wütend werden –, „hier gründen wir Neues“. Ich war nicht überzeugt, nicht so überzeugt, wie noch einigen Wochen zuvor. Was, wenn es eine weitere Niederlage wird? Wenn es nur das letzte Aufbäumen und nicht der neue Beginn war, von dem MacGovern sprach? Was tat ich überhaupt hier, in diesem Zoo? Wie war ich hierher gelangt? Der Plan war, zu berichten, nicht mitzumachen.
MacGovern meine, dieser Tag würde in die Geschichte eingehen, es hätte ihn die Erkenntnis überkommen. Wir werden es sehen.
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„If there is a God, I want to thank Him for the Gideons, whoever they are. I have dealt with some of His other messages and found them utterly useless. But not the Gideons. They have saved me many times, when nobody else could do anything but mutter about calling Security on me unless I turned out my lights and went to sleep like all the others…” (Hunter S. Thompson / Generation of Swine : Tales of Shame and Degradation in the ’80s. – New York u.a. : Simon & Schuster, 2003, p. 10)
„We are, after all, professionals.“ (ebenda, p. 15)

Es ist alles noch verwaschen, kurz vor dem Sonnenaufgang in Neukölln. Das wird hoffentlich besser mit dem Tag und klarer. Dort runter, übrigens, und dann nach dem S-Bahnhof links kommt man zum Estrel Neukölln, dem Veranstaltungsort des Bibliothekartags. Von hier einfach nach rechts kommt man zum Veranstaltungsort des geselligen Abend bei der Berlin-Station von Cycling for Libraries. Und zur frei<tag> geht es von hier mit der U-Bahn und dann einmal Umsteigen in die S-Bahn oder die Tram. „Like most of the others, I was a seeker, a mover, a malcontent, and at times a stupid hell-raiser. I was never idle long enough to do much thinking, but I felt somehow that my instincts were right. I shared a vagrant optimism that some of us were making real progress, that we had taken an honest road, and that the best of us would inevitably make it over the top. At the same time, I shared a dark suspicion that the life we were leading was a lost cause, that we were all actors, kidding ourselves along in a senseless odyssey. It was the tension between these two poles – a restless idealism on one hand and a sense of impending doom on the other – that kept me going.” (Hunter S. Thompson / The Rum Diary. – London ; Berlin ; New York : Bloomsbury, 2004, p.5)
[…] It’s the frei<tag> Countdown. Noch 8 Tage. (02. Juni 2011) […]