Die Bibliothek in der Literatur. Heute: Über die Linden. Ein Beiblatt.
Über die Linden. Ein Beiblatt zu einem Ausflug.
Überraschend ergab sich mir jüngst seit langer Zeit wieder einmal die Gelegenheit, eine Führung durch das Haus 1 der Berliner Staatsbibliothek zu begleiten. Es war nicht mein erstes, aber ein ganz anderes Vordringen in dieses seit je etwas hermetisch anmutende Gebäude, das mit seinem gewaltigen Baukörper das kleine Institut in der Dorotheenstraße buchstäblich in den Schatten stellt. Nur im Sommer, wenn die Sonne einen hohen Bogen schlägt, ändert sich dies und dann ist es auch nicht willkommen, denn die drei schmalen dem Institut vorgelagerten Stufen werden damit endgültig zum überhitzten Unort, den man eilig verlässt. Zum Beispiel in Richtung des schattigen Lindenboulevards.
I
In der Erinnerung sind die frühsemestrigen studienbegleitenden Pflichtausflüge in den Bibliotheksblock Unter den Linden ein welkes Blatt. Man begab sich zum mittäglichen Treffpunkt in der Tönung jener mürrischen Arroganz, die unsteten Jungberlinern nicht selten eigen ist und aus der man abschätzig durch die buchversessene selbstvergessene Hingabe derjenigen, die freiwillig durch dieses Haus und seine Sammlungen wieseln und wühlen, so leer und ironisch wie möglich hindurchzublicken versuchte als fürchtete man eine Kontamination. Es galt vorzuspielen, dass man nur zufällig in diese Schablonenwelt aus Registern, Katalogen, Verwaltung und papierner Last geraten war und nun eben ein bisschen gezwungen mitspielt, wie man auch auf einer Familienfeier für einen albernen und harmlosen Jux zur Förderung der Geselligkeit einen freundlichen Zug auflegt, obschon man nichts von solchen Dingen hält. Auch die Sammelwut des etwas wundersamen Professors, der die kleinen Studierendengruppen führte und einen unmöglichen Stoffbeutel mitführte, aus dem er zum Ende des Rundgangs ein wahnwitzig zerfaltetes Buch als Gastpräsent zog, war aus diesem Seitenblick so gar nicht als Rollenmuster geeignet.

"Man mag sich vorstellen können, daß diese moderne Bibliothek von einem Ingenieur aus Eisen, Beton und Glas gebaut werden würde; man hat sich den Bau als ein ganz der Sachlichkeit hingegebenes und nach den letzten Errungenschaften der Bibliothekstechnik organisiertes Instrument zu denken vermocht." (Deutsche Kunst und Dekoration, 1914 (17), Heft 8, S. 140) Berlin hat stattdessen einen gehörigen Brocken Monumentalität erhalten. Und den trägt seitdem nicht nur die Stadt mit sich herum. - Rückwärtige Ansicht der Staatsbibliothek Berlin -
Das Buch, das einen in dieser Zeit trug, war ein Buch der Unruhe. Dessen Lektüre frisch im Hinterkopf fühlte man sich intellektuell gewappnet, um mit der nötigen Kühle auch das bibliothekwissenschaftliche Studium wie nebenbei zu absolvieren – diese unentschlossene halbe Wahl in die einen der orientierungsarme Lauf der Dinge aus einem fremden Grund eher zufällig getrieben hatte. Das eigentliche Leben spielte ohnehin nicht in den von durchhängenden Bücherregalen flankierten Vorlesungsräumen der Dorotheenstraße, sondern in Nächten, in denen man sehnsüchtige Webseiten für eine entfernte Liebe programmierte, weil man dachte, das wäre die passende Form der Modern Love. Oder man schwebte auf den gesampelten Rap-Wolken polierter Klubs am Hackeschen Markt, in denen man auch wochentags morgens um 3 Uhr inmitten einer merkwürdigen Mischung aus amerikanischer Hip Hop-Chromatik und Berliner Graffiti-Chromlack, also dem parfümduftenden Bügelfaltenkommerz, der dann ein halbes Jahrzehnt später zur Jugendleitkultur wurde, und einer eisenbahnanlagenschmutzigen Subkultur voll rücksichtslosem Ausdruckswillen herumtrudeln und überlegen konnte, was sich denn auf Castaneda reimen lässt („Wasserträger“). Die Zeit lief, denn diese Subkulturen sind Kulturen einer bestimmten Spanne Jugend und wenn das Zeitfenster zuschlägt, wird man sie nur noch durch eine Scheibe betrachten aber nicht mehr atmen können.
Der Gedanke, Bibliotheken zu besuchen, war also trotz des Studiums ein fernliegender. In einer sehr eigenen L’Éducation sentimentale konzentrierte man sich auf andere Phänomene des Bestandsaufbaus und der Aussonderung und dies mehr als auf Langzeitarchivierung und Erhaltung.
Später näherte man sich der Staatsbibliothek überraschend wieder an und selten genug aus einem Leseinteresse. Zum Haus 1 motivierte ein fröhliches Frühlingspochen, ein eigentlich kaum erheblicher innerer Shuffle, für den der dortige Brunnen als Ort eines mainachmittäglichen Stelldicheins stadtromantischer Resonanzboden sein sollte, auf dem man allerdings alsbald ausglitt. Für die spärliche Lesesaalarbeit bot ohnehin das Schiff am Potsdamer Platz die bessere Handbibliothek. Abgesehen von solchen Intermezzi mochte sich eine Notwendigkeit zur Staatsbibliotheksbenutzung nie dauerhaft einstellen. So blieben beide Häuser im Fortgang diverser Jahre die Leseorte der Anderen.
II
Ganz zufällig und vor allem vor einem etwas anderen, pointierteren Bewusstsein bot sich nun ein gesättigtes Jahrzehnt später die Gelegenheit inkognito als Teil einer kulturwissenschaftlichen Seminargruppe erneut einer klassischen Staatsbibliotheksführung beizuwohnen. Die Tarnung als naiver Student gelang leicht. Das stetige Abbröckeln als unwichtig erachteter Teile der Erinnerung ließen wenig zum Wiedererkennen übrig. Es folgte eine Begegnung beinah wie mit Unbekanntem. Die Motivation war im Gegensatz zum früheren Eindringen freilich freiwillig und lag hauptsächlich in der Hoffnung auf einen möglichst spektakulären Blick in und auf den superlativen Lesesaal, von dem man später zu erzählen plante. Diese heimliche Erwartung schien zunächst zerschlagen. Aber gegen Ende der Führung war sie es nur halb, denn es gab noch eine kurze Außenansicht von einem kuriosen gläsernen Ausguck über dem Dachgeschoßmagazin. Jedoch wurde der Neubau aus dieser Perspektive durch das restliche Berlin-Panorama mit den üblichen, fein illuminierten Verdächtigen (Fernsehturm, Park Inn-Hotel, Dom) gnadenlos degradiert, was auch daran gelegen haben mochte, dass der frischeingesetzte Würfel bereits hilf- und lichtlos in der frühen Dämmerung dieses Januartages versank. Trotzdem war die Enttäuschung eine geringe, denn es gab abgesehen von der betörenden Rundumsicht auf die Stadtmitte eine nicht erwartete Entschädigung in Form der Tatsache des Eindringens an sich. Einst, als man sich noch gern in eine Szene setzte und irgendjemanden fernliebte, schien unerheblich und reizlos, was sich in dem naheliegenden Bibliothekskoloss verbirgt. Nun in den unendlichen Regalweiten war es plötzlich, als hätte man den Zugang zu einem Höhlensystem in einem übersehenen, weil undurchdringlich scheinenden Fels entdeckt und die Faszination, einen so weiten und fast verlassen scheinenden Ort zu durchspüren ist eine, der man sich, einmal von ihr befallen, schwer zu entziehen vermag.
So liegt denn der Reiz derartiger Besichtigungstouren darin, dass man gerade nicht die öffentlich mehr oder weniger zugänglichen Bereiche erschließt. Deren Türen öffnen sich sogar nur für ein der Wahrnehmung der dortigen Leser möglichst entgehendes Hindurchhuschen. Die gedehnte Zeit des Besuches gilt vielmehr dem Zugang zur Entlegenheit nur über verschlüsselte Fahrstuhlfahrten erreichbarer Geschosse und eventuell dem Zutritt zum Direktorenboudoir, in dem sich heute mit perfektem Blick auf die Deutsche Guggenheim ein gelangweilter Schreibtisch aufhält. Die Direktorin, so die Auskunft, dirigiere doch mehr im Weststandort und der hiesige Bürobereich diene vordringlicher der Repräsentation als der konzentrierten Leitungsarbeit. Und schon diese Aussage ist zuviel, denn sie stört das Geheimnis.
III
Während das kleine Grüppchen der Kulturwissenschaftsstudenten mit dem eingeschlossenen Bibliothekswissenschaftler der sie leitenden Staatsbibliothekarin folgte und durch Stiegenhäuser und Dachbodenmagazine die monströse Neubaumitte des Hauses hoch und tief umkreiste, erinnerte man sich weder daran, wie man schon einmal vor einem Dutzend Jahren irgendeinem dieser Gänge gegangen sein musste noch an die Zeilen aus Christa Wolfs Traumerzählung „Unter den Linden“, die doch sehr nahe lagen, in der Lektürebiografie aber abgelegen genug, um hinter dem Horizont dieses Nachmittags verborgen zu bleiben. Erst einige Tage später blätterte man in der berührend treffend „Die Lust, gekannt zu sein“ genannten Sammlung von Erzählungen zu einer aus dem Jahr 1974 und damit zur einzig richtigen Stelle:
„Immer hatte ich geahnt, daß diese Straße in die Tiefe führt. Ich brauchte nur rechterhand durch das schmiedeeiserne Tor in den Innenhof der Staatsbibliothek eintreten, den ich übrigens nicht erkannte. Aber es verlangte auch niemand von mir, daß ich mich erinnerte.“ (S. 179)
Ich hatte nicht geahnt, dass mich dieser Tag so in diese Tiefe führt, aber ich brauchte mich nur durch die Vorbaustelle, die den Ehrenhof gerade besetzt, ziehen zu lassen und schon war ich in ihr. Und niemand verlangte von mir, dass ich mich erinnerte. Allein im Hof erinnerte ich mich auch ohne dieses Verlangen. Ausgerechnet an ein Verlangen. Aber nur kurz, denn wie Christa Wolfs Traumerzählerin zog es mich weiter:
„Die Wahrheit ist, daß ich freiwillig aus dem Brunnen kam, sofort wie unter einer starken Strahlung trocken und nüchtern war und auf die schwere, geschnitzte Tür der Staatsbibliothek zuging, die ich wohl wissend, was ich tat, leicht und ohne zu zögern aufstieß.“ (S. 180)
Ich war unsicher, aber befand mich auch nicht im Traum, sondern an einem Wintertag vor einer Zugangssituation, die mit Holzplanken das Umfeld regelt. Das Fontänenbecken war jetzt eine nackte, sprachlose Schale, der berühmte herbstrote wilde Wein ein unsichtbares Liniengewirr an irgendeiner Fassade und das Schnitzwerk der Eingangstür wirkte undurchlässig wie ein Zaun. Es gibt zweifelsohne Pforten in der Mitte Berlins, die sich noch schwerer öffnen lassen. Aber auch diese hier ist fraglos eine erhebliche Hürde. Einmal genommen, wartet in der Halle die nächste:
„Gleich bei meinem Eintritt enthüllten sich mir die Regeln dieses Ortes. Sie schienen mir übrigens leicht zu befolgen, viel wurde nicht verlangt: Dreh dich nicht um, sagte zu mir die bleiche, aufgeschwemmte Pförtnerin, die jeder beachten muß und die selbst keinen zu kennen braucht. Eilfertig nickte ich, während ich meine Lesekarte hochhielt, die ich stets bei mir trage und gegen die sie wie immer nichts einzuwenden hatte.“ (S.181)
Hier gabeln sich die Geschichten, meine und die der Erzählerin von Unter den Linden, denn eine Lesekarte der Staatsbibliothek besitze ich nicht, da mir dafür für das, was ich dort zu tun haben könnte, zwar nicht viel, aber doch zu viel verlangt wird. Ich brauchte an diesem Tag auch keine, drehte mich um, der Pförtnerin nickte ich zu und die Staatsbibliotheksführerin schleuste mich rasch durch die Schranke und in den Vorsaal, dessen Nachsatz, wie zu erfahren war, nach wie vor jene kolossale Baustelle ist, die möglicherweise im nächsten Jahr zu einem kolossalen Raumerlebnis wird, dass Ernst von Ihnes Kuppellesesaal würdig erinnert. Vielleicht verschiebt sich dann auch die Perspektive, die das Innere der Staatsbibliothek mit seiner einschüchternden Wuchtigkeit beständig enthält.
„Als ich das hölzerne Drehkreuz passierte, kamen mir Zweifel: Sollte das alles sein? Das konnte ich nicht glauben, zu tief steckte mir die Scheu vor diesem Ort in den Knochen.“ (S.181)
Nun, das Drehkreuz ist längst nicht mehr hölzern, die Treppe war weit, die Decken hoch und wir Menschen klein. Aber ohne Scheu, vielleicht mit einem Hauch Ehrfurcht, standen wir am Treppengeländer, an dem Christa Wolfs Figur eine Hand erinnert und danach die Arbeit im Lesesaal für Gesellschaftswissenschaften:
„Hierher, nicht wahr, ging man einst, um sich auf einen ganz bestimmten Platz zu setzen, von dem aus man einen ganz bestimmten Rücken im Auge behalten konnte. Um dann sofort, wenn der Betreffende gegangen war, an das Regal zu treten und den schweren Folianten, den er soeben aus der Hand gelegt hatte, an den eigenen Platz zu schleppen.“ (S. 182)
In der Geschichte bedeutet das natürlich weitaus mehr, als ein herzblutarmes „Flirtort Bibliothek“. Dennoch: Auch wer heute nur kurz in den Lesesaal für Gesellschaftswissenschaften Zugang erhält, um schnell zur Decke zu blicken, spürt, dass dieses ein Ort der Schwere ist und einer der Stille und der Langsamkeit. Hier gibt es keinen Raum für unverbindlich hastendes Speed Dating. Wer hier an Liebe denkt, der gräbt sich tief darin ein. Der nimmt sich etwas mit. Und träumt vielleicht vom Weg zum Lindencorso, in dem sich nun statt einer Tanzbar Showrooms für Automobile befinden, und von einer Telefonzelle an der Friedrichstraße, die es noch lange gab und von der man auch einmal jemanden anrief für ein Treffen im Ehrenhof der Staatsbibliothek. Als man anders an Liebe dachte.
„Gehen wir. Hier im Foyer übrigens, wo heute die Kinderbücher und die übergroßen Autorenfotos ausgestellt sind, gab es einmal Laienmalerei von Medizinern zu besichtigen: Mit Skalpell und Pinsel oder so ähnlich.“ (S. 183)
Wir gingen, verloren uns schon weitgehend im Foyer, teilweise vor einer Starbucks-Filiale und endgültig dann am S-Bahnhof. Im Gegensatz zur frühstudienzeitlichen Begegnung bewahrt sich nun aber etwas in der Vertiefung dieses Nachmittags. Und so kann man von nun an die schöne traumbewusstseinsstromernde Skizze Christa Wolfs zur Hand nehmen und das jeweils eigene Erinnern und Empfinden auf denselben Fixpunkt hin nachzeichnen und sezieren. Was auch ein schöner Nebeneffekt (oder gar Hauptzweck) von Literatur ist. Und der Bibliothek in der Literatur.
Berlin, 24.02.2011
(Zitate aus: Christa Wolf: Unter den Linden. In: Christa Wolf: Die Lust, gekannt zu sein. Erzählungen 1960-1980. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. S. 170-226)
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