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Der Appetit kommt beim Chatten. Adam Gopnick über das Internet als omnipräsente Bibliothek und drei Perspektiven.

Posted in LIBREAS.Referate by libreas on 10. Februar 2011

Ein Kommentar zu

Adam Gopnick: The Information. How the Internet Gets Inside Us. In: New Yorker, 14.02.2011. Online: http://www.newyorker.com/arts/critics/atlarge/2011/02/14/110214crat_atlarge_gopnik

von Ben Kaden

Gehen wir der Frage nach, wie digitale Technologie unsere Lebenswelt umgräbt, dann sind die Echogramme der Popkultur besonders aufschlussreich. Nicht zuletzt die Möglichkeit elektronischer Musik hat diese Facette des kulturellen Lebens gründlich umgegraben und spätestens mit dem Mp3-Player wurde Digitaltechnik selbst Pop. Dass thematisch direkt auf das Thema gerichtete Musikprojekte mit Namen wie Arpanet in ihrer Popularität weiter hinter andere Bezugsgrößen betonenden Bands wie The Books zurückstehen, liegt möglicherweise weniger am Namen als an der Art der Kompositionen. Für Projekte wie Digitalism sieht es z.B. ganz anders aus. Da hat auch eine informationstheoretische Konzeptcombo wie Signal keine Chance, selbst wenn sie die feiner ziselierten Klanglandschaften elaboriert. Allerdings referenziert sie auch Robotron und den Uranbergbau

Eine kaum erreichte Reflexionsintensität dürfte nach wie vor Ursula Ruckers Stück Digichant aus ihrem Album Supa Sista aufweisen, das zu Beginn des letzten Jahrzehnts für einige (zugegeben wenige) Ausrufezeichen sorgte und sich als stimmiger Soundtrack zur Lektüre aktueller Bücher ausgewählter Technologieskeptiker anbietet:

„Are we gonna utilize it or become it? / Are we gonna let it serve us or usurp us?”

Damit präsentiert uns die Künstlerin aus Philadelphia die technikphilosophische Grundfrage per Lautsprecher und allein die Tatsache, dass Ursula Ruckers Digitalisierungsbotschaft abseits einer Spoken Word-Performance überhaupt nur technisch vermittelt aufnehmbar ist, deutet schon an, wie sehr wir in das Technisch-Vermittelnde verstrickt sind. In besonders empfindsamen Momenten stößt man angesichts der Intensität dieser Bindung gern in eine emotionale Dualität vor, die dem erwartungsgemäß fabelhaften aktuellen Album des als „The Streets“ bekannten Mike Skinner den Namen gibt: Computers and Blues. Allerdings sind die Stücke relativ Computer-abstinent und selbst ein Lied mit dem verlockenden Titel „A Blip on the Screen“ entpuppt sich als romantische Sonografie-Hymne auf ein ungeborenes Kind.

Vermutlich ist die Verbindung zwischen Computer und Traurigkeit keine zwingende. Wer Kraftwerk kennt, weiß: It’s more fun to compute. (So bierernst wie es dann erklingt, beginnt man allerdings am postulierten Spaßfaktor zu zweifeln..)

Und umgedreht: Auch mit Computern vor den Augen fand der jüngst verstorbene Gary Moore bei jedem Konzert zu seiner Aussage: „I still got the blues“. (Wobei der Rechtsstreit um die Urheberschaft des berühmten Gitarrensolos erst erstinstanzlich gegen Gary Moore entschieden wurde und niemand sagen kann, ob er ihn wirklich noch hat…)

Am Ende ist Blues haben oder nicht haben keine Frage der Computerisierung sondern unabhängig vom Gerät ein Merkmal des Menschen davor. Jedenfalls würde vermutlich Adam Gopnick so argumentieren. Der Essayist und Kommentator des New Yorker sinniert in der Ausgabe vom 14. Februar über die Frage How the Internet Gets Inside Us und betrachtet dabei drei verschiedene Blickwinkel möglicher Antworten: den der euphorietrunkenen Never-Betters, den der schwermütigen Better-Nevers und den der tafelwässrigen Ever-Wasers.

Erstere, zu denen er Akteure wie Clay Shirky und John Tooby anzählt, gehen davon aus, dass die totale Digitalisierung der Lebenswelt in die beste aller möglichen Welten führte, führt bzw. führen wird: „ever better, onward and upward, progress unstopped.“ Solchem Denken folgt z.B. die Erleichterung, mit der die E-Book-Industrie die mutmaßliche Ablösung bleischwerer Druckwerke durch federleichte Anzeigegeräte feiert, die uns schwerelose Inhalte überall abzubilden versprechen. Im Extremfall wird der Bogen sogar auf die schlichte Formel gespannt: keine P-Books=keine Notwendigkeit für Bibliotheken. Daraus sprießen dann um die Bezeichnung Ausführungszeichen, die für etwas „Sogenanntes“ stehen. Manch einer sagt, er findet das gut. Aber eigentlich glaubt man nicht, dass sich irgendjemand ernsthaft derart versimpelte Schlussfolgerungen wünscht.

Dabei erkennen die Never-Betters die Rolle des Buchdrucks als Entfaltungs- und Emanzipationswerkzeug der menschlichen Erkenntnis durchaus an. Nur ist das Buch als Medium dank des Internets überholt und gestrig wie automobile Heckflossen. Adam Gopnick führt an diesem Gedanken sehr deutlich aus, wo die etwas zu einfältige Rechnung einer „Aufklärung dank Gutenberg“+ „Weiteraufklärung dank Web 2.0“ nicht aufgeht: Von den beweglichen Lettern zur demokratisch grundierten Zivilgesellschaft führte kein sanft geschwungener Pflasterweg, sondern eine ziemliche Schneise der Verwüstung, bei deren Entstehung das Buch sowohl Axt wie auch Wehrzaun war. Kurz: Wohin wir gelangen, gelangen wir nicht aufgrund einer bestimmten technologischen Logik, sondern “because of parallel inventions, like the ideas of limited government and religious tolerance, very hard won from history.” Es geht um die Idee und deren Durchsetzung mit Blut, Schweiß, Tränen oder wessen es sonst bedarf. Das dafür benutzte Medium nur Instrument. Daher konnten sich auch die maßgeblichen totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts konsequent an Büchern ausrichten und die Apologien ihrer Härte in solchen abbilden. Das Medium Gutenbergs steckt durchaus in einem befleckten Einband.

Zeichnet sich der medienhistorische (De-)Materialismus der Never-Betters durch einen tatsächlich manchmal grotesk schlichten technischen Determinismus aus, profitieren die kulturpessimistischen Better-Nevers davon, dass Melancholie oft mit einem romantischen Bezug versehen auftritt, der intellektuelle Anatomen im ersten Moment vor dem Schnitt zögern lässt. Adam Gopnick gibt dies zu, lässt sich aber nicht lange bremsen und legt frei, dass das argumentative Gewebe der Beispielautoren dieser Gruppe – Nicholas Carr, William Powers, Sherry Turkle – bei näherer Betrachtung kaum stichhaltiger erscheint. Sie kochen vielleicht in anderen Töpfen aber mit demselben Wasser, das vor allem aus der Hochrechnung eigener Eindrücke und Erfahrungen mit den jeweiligen Technologien strömt. Obschon Adam Gopnick dieser Gruppe ein Stück weit mehr zuneigt, zeigt er sich doch wenig überzeugt, da er seinen Walter Benjamin und seinen Marshall McLuhan kennt und folglich um die lange Traditionslinie der Kritik der neuen Medien weiß.

Etwas, worauf Adam Gopnick jedoch hinzuweisen verpasst, ist, dass die von ihm betrachteten aktuellen großen Erzählungen zum medialen Wandel nahezu ausschließlich von Autoren verfasst werden, die aus einer sowohl hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status wie auch ihrer intellektuellen Sozialisation ziemlich homogenen Gruppe stammen. Die Vorstellungen und Wahrnehmungen dieser vielleicht intellektuelle Elite zu nennenden Vertreter müssen aber nicht unbedingt repräsentativ oder verbindlich sein. Feuilleton-Debatten haftet es naturgemäß an, diesen blinden Fleck der Deutungshoheit stillschweigend zu reproduzieren. Das Problem wird dann akut, wenn politische Entscheidungsträger aus diesen diskursiven Scharmützeln heraus schlagseitige Entscheidungen treffen. Glücklicherweise halten sich die Better-Nevers und die Never-Betters in einer gewissen neutralisierenden Symmetrie zwischen der Wertewelt des schnellen Chattens und der des stillen Lesens…

Abgeklärter präsentieren sich die so genannten Ever-Wasers. Für sie gilt: Alles schon gehört, alles schon gesehen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, nur immer leicht variierte Redundanz. (Der Videokünstler Nam June Paik meinte einmal sinngemäß, dass es nicht darum gehe, neue Dinge zu entdecken, sondern darum, neue Beziehungen zwischen bekannten Dingen herzustellen. Damit gab er die Maxime der Untergruppe der progressiven Ever-Wasers aus. Es gibt aber auch andere…)
Selbstverständlich spielt bei diesem Stoizismus die kaltblütige Distanz zu sich selbst eine Rolle. Denn jeder Anhänger der Fortschrittserzählung bringt gegen die abgeklärten Skeptiker und mehr noch gegen die Nostalgiker bevorzugt Beispiele aus der mittelalterlichen Zahnmedizin u.ä.  in Stellung. Die Erfindung der Anästhesie zu relativieren erfordert schon eine gewisse Konsequenz.

Eigentlich reicht aber auch der Hinweis, dass die Betrachtungsebenen nicht derart durcheinander purzeln sollten. Adam Gopnick, der zweifellos für die Gelassenheit der Ever-Waser die größte Sympathie hegt, hält sich entsprechend lobenswert straff an der Triade von geistigen Inhalten, technischer Repräsentation und Vermittlung sowie beider Formen Nutzung. Die digitale Welt des Internets vergleicht er nicht ganz originell aber nachvollziehbar mit der idealen Bibliothek. Diese Bibliothek ist kein besonderer Ort für vereinzelte Besuche mehr, sondern nichts weniger als unser Habitat geworden:

„There is, for instance, a simple, spooky sense in which the Internet is just a loud and unlimited library in which we now live—as if one went to sleep every night in the college stacks, surrounded by pamphlets and polemics and possibilities.”

Allerdings betont er hauptsächlich die informationelle Komponente und erfüllt damit seinen Plan, der Durchdringung unserer Lebenswelten mit Digitalitäten auf die Spur zu kommen, nur teilweise. Die generell etwas klumpfüßige Zusammenführung von Internet und Druckwelt, also der Bezug auf das Publizieren und Publizierenkönnen fokussiert genauso wie das Bild der allgegenwärtigen Bibliothek nur die öffentliche oder auf Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation. Selbst wo Adam Gopnick Soziale Netzwerke angibt, bleibt er dieser informations- und erlebniskonsumistischen Perspektive treu:

„A social network is crucially different from a social circle, since the function of a social circle is to curb our appetites and of a network to extend them.”

Also: Sag mir, auf was ich als nächstes zugreifen soll! Dabei geht es, jedenfalls nach meinen Erfahrungen, bei weitem nicht in jeder sozialen Interaktion um Appetitanregung oder -zügelung. Soziale Kontakte dienen nicht primär einer objektorientierten Programmierung des Selbst, sondern zielen häufig einfach auf das einfache, aber doch entscheidende Gefühl, nicht allein zu sein. Die Sichtweise einer Ideen abbildenden und durchsetzenden Wirkung von Technologien mag angesichts der Bezugspunkte – besonders der Never-Betters – logisch sein. Wenn aber das Internet uns durchdringt und unsere Kommunikationen bündelt und kanalisiert, dann gehören vor allem die zweite und dritte Tortenschicht in Abraham Maslows berühmter Bedürfnispyramide mit in die Betrachtung.

Die Digitalisierung objektiviert und versieht in den sozialen Netzwerken unsere persönlichen Bindungen mit Labeln. „Übrigens sind Worte wie ein Walzwerk, das die Gefühle unweigerlich plattdrückt“, wusste schon Flaubert anzumerken. Ohne Worte, d.h. ohne digitalisierbare Aussagen sind digitale Netzwerke wenig. Facebook und die VZs basieren darauf, Beziehungen maschinenlesbar zu machen und kommodifizieren unsere persönlichen Interaktionen. Sie setzen auf eine Logistik und damit Ökonomie von Zeichen. Möglicherweise finden wir genau an dieser Stelle eine Wirkung digitaler Vernetzung, die aus sozialpsychologischer Sicht für eine Betrachtung unter der im New Yorker ausgerufenen Fragestellung weitaus interessanter ist, als das Auseinanderklamüsern der meist ziemlich eindimensionalen Argumentationen zwischen Shirky und Carr.

Welchen Trost bieten Maschinen (im Gegensatz zu Dingen), wie lässt sich in objektivierten Umgebungen Geborgenheit vermitteln? Es könnte sein, dass sich die Antwort nicht in den Differenzierungen intellektueller Diskurse findet, sondern tatsächlich im integrativ gerichteten Sentiment des Pop. Die oben zitierte 10 Jahre alte Grundfrage Ursula Ruckers ist nach wie vor aktuell. Am Ende geht es möglicherweise schlicht um den Umgang mit der Einsamkeit in Zeiten ihrer technischen Kommunizierbarkeit. Darum, in der idealen Bibliothek auf einem Klangteppich von Computer und Blues herum zu eilen und einen Archivraum der Gefühle zu suchen.


Eine Antwort

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  1. Ben said, on 14. Februar 2011 at 21:40

    Ergänzung: Eine kleine Anmerkung zu diesem Text gibt es im medinfo-Weblog: “Bibliothek” wird zunehmend in Anführungszeichen gesetzt.


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