Ding, Dinglichkeit und vielleicht ein Quantum Trost. Daniel Millers Anthropologie der Alltagsobjekte.
Überlegungen im Anschluss an Daniel Miller: Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2010.
von Ben Kaden
Der Mensch ist ein Knotenpunkt. Zu dieser Erkenntnis führt der britische Anthropologe Daniel Miller in seiner wunderschön sanftmütigen Untersuchung zum Trost der Dinge (bzw. Comfort of Things). Dessen Darstellung der Rolle der, wenn man so will, Dingkultur im Leben zufällig ausgewählter Londoner ist schon an sich als Sensibilisierung für das, was uns umgibt, höchst empfehlenswert. Denn der sich scheinbar einstellende Bedeutungsverlust des Dinglichen und auch des dinglichen Eigentums, wie Jeremy Rifkin in seinem Age of Access als Merkmal des Hyper-Kapitalismus herausarbeitete und besonders das Verschwinden der dinglichen Kommunikationsträger, das uns mit der Digitalisierung ereilt, sind eine intensive Erfahrung der Verschiebung. Jedenfalls für die, die noch den Unterschied kennen und irgendwann einmal eine Ansichtskarte erhielten oder klopfenden Herzens zum Fotografen gingen, um sich die Abzüge eines Kleinbildfilms aushändigen zu lassen.Der Umgang mit den Dingen ist, wie Daniel Miller zeigt, ein permanentes Bemühen um die Konstruktion von Kohärenz. Die Welt lässt sich für uns über Dinge zusammenkoppeln und wenn schon nicht in Gänze verstehen, so doch (buchstäblich) phänomenal erfassen. Die Dingkultur ist eine Kultur der Ordnung (auch wenn sie sich als vermeintliche Nicht-Ordnung manifestiert). Ist das Ding mehr als seine reine Funktion, erhält es einen symbolischen Gehalt und wird ein semiotisches Ereignis.
In seinem Nachwort zitiert Daniel Miller Magaret Meads Erkenntnis, dass der Mensch stets sich selbst zugleich Subjekt und Objekt ist. Der Mensch benutzt Dinge zur Definition und Dokumentation seines Selbst. Die Dinge begegnen ihm, stoßen ihm zu und stoßen zu ihm, prägen ihn und der Mensch wiederum nimmt Dinge auf und verwirft sie. Das teilen die Dinge mit anderen Menschen und ein kurzer bewusster Blick durch das eigene Wohnzimmer reicht zumeist, um individualempirisch festzustellen, wie sehr Gegenstände den Zugang zu anderen Menschen real, in der Erinnerung oder auch als Antizipation hervorbringen.
Dinge repräsentieren zugleich sachliche und symbolische Erweiterungen von Persönlichkeit. Als Werkzeuge, seien sie praktischer Natur oder Erinnerungsschlüssel, strukturieren sie die Handlungen und auch die Interaktionen der Menschen und markieren seinen Lebenslauf. Immerhin dienen Dinge den meisten von Daniel Miller Porträtierten als Mittel, um sich durch die Biografie und die sozialen Anschlüsse an andere zu hangeln. Das dingloseste Porträt im Buch (George) ist zugleich auch der Mensch mit einem diesbezüglich erschütternd entleerten, in gewisser Weise tatsächlich gegenstandslosen Leben.
„Jeder Haushalt wird dabei zu einer Gesellschaft in nuce, die sich ihre eigene, mehr oder weniger stark von allgemeinen religiösen und kulturellen Normen geprägte Kosmologie erschafft.“ S. 218
Ist jede Biografie die Entfaltung einer bestimmten Daseinsmöglichkeit im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld, wird die Relevanz einer derartigen kulturanthropologischen Sichtweise für die Bibliothekswissenschaft augenfällig. Anthropo-, ethnologische und ethnografische Methoden kommen allerdings vergleichsweise selten in bibliothekswissenschaftlichen Kontexten zur Anwendung.[1] Das ist schade, denn wenigstens bei der Benutzungsforschung liegt der Anschluss nahe.
1. Daniel Millers Buch lässt sich aus der bibliothekswissenschaftlichen Perspektive natürlich vor allem als Impuls lesen, das Element des Dinglichen bei den eigenen Überlegungen zu berücksichtigen. Eine entscheidende Brücke zwischen allgemeiner Dingkultur und konkreter Bezugnahme bauen zweifellos die über Dinge vermittelten Beziehungen; Menschen treten in Relation zu Dingen und diese Dinge vermitteln die Relation zu anderen Menschen. Dies ist die Grundlage jedes Kommunikationsmediums und darin zeigt sich der Kern jeder mehr auf Kommunikation denn auf nackte Informationsversorgung gerichteten bibliothekarischen Arbeit. Dort, wo es um die Vermittlung von Konzepten, Gedanken, Ideen, also Wissen geht und nicht um reine Datenverarbeitung, vermittelt die Bibliothek zwischen Menschen. Sie ist damit natürlich selbst eine Art Objekt und als Institution wiederum mit einem Eigensinn aufgeladen. Eine Anschlussfrage lautet dahingehend, inwieweit sie oder Teile von den Benutzern „dinglich“ wahrgenommen wird.
2. Will die Bibliothek etwas über die Spannbreite möglicher und tatsächlicher Interaktionsformen mit ihren Nutzern lernen, eröffnet der Blick auf praktischen Umgang der Menschen mit Dingen generell eine aufschlussreiche Empirie. Auf privater Ebene bilden die Dinge, die wir bekommen und (uns) erhalten individuelle und soziale Beziehungsmuster ab, die – so Daniel Miller – dem Einzelnen „Ordnung, Sinn und in der Regel auch ethische Maßstäbe geben und ihm darüberhinaus ein Trost und eine Zuflucht sind.“ (S. 219) Daniel Miller schreibt vom Trost der Dinge, wobei der Originaltitel „comfort of things“ mehr im Sinne eines Zuspruchs oder mehr noch einer Stütze und vermutlich am besten eines Ausgleichs zu verstehen ist. Die Dinge ergänzen und stabilisieren den Menschen. Jedenfalls für eine bibliothekswissenschaftliche Lektüre des Buches ist das der bessere Haken. Denn bei allem Anspruch ist bibliothekarische Arbeit selten eine tatsächlich tröstende Tätigkeit.
3. Der Umgang mit den Dingen ist eine Ausdrucksform des Individuums, über die es mit seiner Umwelt interagiert, sie gleichzeitig für sich erschließt und sich dadurch selbst konstituiert. Die Dingkultur ist eine alltägliche und immer schon gegebene Vorwegnahme dessen, was sich nun vermehrt unter dem Stichwort Folksonomien bzw. nutzerbasierte Indexierungs- und Ordnungsverfahren in bibliothekarischen Kontexten findet: Es sind selbstständige, individuelle Ordnungen der Welt. Unser persönlicher Umgang mit Dingen erzeugt Ordnungssysteme, die die mannigfaltigen, unscharfen und variablen Deutungen und Bedeutungszuweisungen jedes einzelnen Menschen abbilden. Die individuelle Dingkultur ist damit ein realweltliches Komplement zu digitalen Formen wie dem ebenfalls auf Sozialität wie Relationalität setzenden Social Semantic Web (vgl. dazu Katrin Weller (2010)). Auch dort existieren multiple Ordnungssysteme mit individuell festgelegten und veränderlichen Prioritäten und Hierarchisierungen. Die hier agierenden Individuen projizieren ihre eigene Wahrnehmungswelt in diesen Handlungsraum. Durch das Zusammentreffen pluraler Perspektiven und Interessen wird dieser Handlungsraum zu einem politischen. So wie private Kommunikation über Facebook oder Twitter auf einmal weböffentlich und zugleich algorithmisierbar vorliegen werden auch individuelle Ordnungsprinzipien, die Daniel Miller noch per Haustürstudie in den Wohnzimmern erfragen musste, wenigstens teilweise sichtbar. Allerdings mit einem anderen Bezugskontext: dem Digitalen. Dass die Erschließungs- und Ordnungsprinzipien nicht nur miteinander, sondern auch zusätzlich mit den institutionalisierten, überindividuellen Ordnungsansprüchen konfrontiert werden, betont den politischen Aspekt noch zusätzlich.

Daniel Millers Trost der Dinge und ein paar Dinge
Wenn der Anthropologe die Möglichkeit für die harmonische Ko-Existenz diverser Ordnungen betrachtet, so sieht Daniel Miller die Voraussetzung in der „Effizienz des modernen Staates und wachsende[m] Wohlstand“. Die Institution der Bibliothek ist eine Paradeinstitution moderner Staatlichkeit. Sie wirkt im Idealfall als eine übergeordnete ordnungsstiftende Gegebenheit, die jedem Individuum in diesem Staat die Teilhabe an der Öffentlichkeit sichert (vgl. dazu ausführlich: Manuela Schulz (2009)). Sie vermittelt den Zugang zur Öffentlichkeit. Sie vermittelt zwischen den Menschen. Sie ist damit ein Angelpunkt der Konsensgesellschaft.
Daniel Miller schloss seine Feldarbeit, die auch eine Art Benutzungsforschung darstellt – nämlich die Benutzung von Dingen – im September 2005 ab. (Der Untertitel „Porträts aus dem London von heute“ ist also eine denkbar unglückliche Zugabe des deutschen Verlags.) Diese Distanz eines halben Jahrzehnts mag die geringe Präsenz des Digitalen im Leben der Befragten teilweise erklären. Lediglich in zwei der fünfzehn ausgewählten Porträts spielen Computer überhaupt eine Rolle. Andererseits erinnert uns dieser Einblick auch daran, dass trotz der aktuell allgegenwärtigen iPad-Plakatierung an den Bushaltestellen Berlins, die digitale Kultur für viele Menschen nach wie vor eher eine Randerscheinung darstellt, genauso wie Rifkins besitzloses Access-Modell gewisse Umstände voraussetzt, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen. Den Luxus, zufrieden nichts zu haben, nichts zu sammeln und nur zu sein, was vielleicht als ein Idealbild des spätkapitalistischen Menschen formuliert werden kann, vermögen sich nur wenige zu leisten.
Diese Einsicht erhöht allerdings die Spannung zwischen der dinglichen Bibliothek und der digitalen Bibliothek[2], worin sich wiederum eine alltagsweltliche Transformation spiegelt, nämlich die von der dinglichen zur digitalen (und damit dematerialisierten) Repräsentation von Beziehungen. Insofern werden zu Daniel Millers Untersuchung ähnliche Arbeiten auch danach fragen müssen, welche Strategien der digitalen Kohärenzkonstruktion sich im Umgang mit den weniger eigensinnlich strukturierten digitalen Objekten etablieren. Und sie müssen sich mit den Auswirkungen einer zunehmenden Präsenz von Nicht-Objekten, also dem als Konsequenz des Social Semantic Webs in einer vordefinierten Struktur digitaler Beziehungen aufgelösten eindeutig Abgrenzbaren, auseinandersetzen. Nicht zuletzt versuchen Technologien wie Touchscreens wie als Kompensation der Dematerialisierung, taktile Elemente in die Nutzungspraxis einzubringen. Der Erfolg von Apple liegt vermutlich nicht zuletzt darin, dass neben der reinen Funktionalität eine ästhetisch anspruchsvolle Dinglichkeit umgesetzt wird. Wie nachhaltig dies wirkt, kann sich allerdings erst im Altern der Pads und Tablets zeigen und darin, wie sehr sie selbst Gegenstand einer aktiven Erinnerungskultur werden können. Eng damit verknüpft sind die wenig reflektierten Fragen des Alterns im gewissermaßen zeitlosen digitalen Lebensraum und wo sich das Ding „Mensch“, das auch dann altert, wenn seine Beziehungen primär digitaler Natur sind, darin seinen Trost des Digitalen holt. Bzw. „the comfort of bits“. Vielleicht liefert Daniel Miller in seinem neuen, für März 2011 angekündigten, Buch „Tales from Facebook“ eine Antwort.
Referenzen
Gisela Ewert; Walther Umstätter (1997) Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung. Stuttgart: Anton Hiersemann
Jeremy Rifkin (2000) The Age of Access. The New Culture of Hypercapitalism, Where all of Life is a Paid-for Experience. New York: Tarcher/Putnam
Manuela Schulz (2009) Soziale Bibliotheksarbeit – „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin: Simon Verlag, http://www.simon-bw.de/bibliotheksarbeit/index.html
Katrin Weller (2010) Knowledge Representation in the Social Semantic Web. Berlin: De Gruyter. (Besprechung im LIBREAS-Weblog)
[1] vgl. dazu auch https://libreas.wordpress.com/2007/11/14/das-ethnografische-erkennen-auch-bei-digitalen-bibliotheken/
[2] In den 1990er Jahren dachte man beide immer noch eng verzahnt als „viergegliederte Bibliothek“. Vgl. z.B. Ewert, Gisela; Umstätter, Walther (1997), S. 13
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