Law Shaped Box: Wie spielt die Musik beim Filesharing?
Ein Kommentar von Ben Kaden
Jüngst erschien in der New York Times ein lesenswerter Artikel, der sich eingangs mit der Behandlung von Fragen des digitalen Urheberrechts an juristischen Fakultäten in den USA und Frankreich befasst, das Thema ausgangs aber viel genereller behandelt. (Nazanin Lankarani: Push in law schools to reform copyright. In: New York Times, 02.Dezember 2009.)
Die akademische Bindung hält der Autor Nazanin Lankarani allerdings hauptsächlich dadurch aufrecht, dass er nur mit Professoren sprach. Ansonsten umreißt er die Kernpunkte der Problematik recht umfassend und hinterlässt dabei einige Anknüpfungspunkte, denen dieser Kommentar folgt.
Im Ergebnis werden bei der Lektüre die Unterschiede in der Herangehensweise in den USA und in Europa deutlich: In den USA diskutiert man die pragmatische Anpassung des Rechts, in Europa eher die – wenn man so will – pragmatische Anpassung des Internetzugangs.
Der Fall Joel Tenenbaum
Natürlich gibt es auch in den USA beinharte Anhänger der Durchsetzung gegebener Rechtsmittel. Besonders augenfällig ist der Spalt zwischen progressiver Rechtstheorie und konservativer Rechtspraxis – etwas, was man auch aus Deutschland kennt.
Der Artikel eröffnet mit Charles Nesson vom Berkman Center for Internet and Society at Harvard Law School. Dieser vertritt aktuell gemeinsam mit Studierenden seines Instituts den Doktoranden Joel Tenenbaum beim Gang durch die Instanzen. Dem jungen Mann wird vorgeworfen, dreißig Musiktitel illegal vervielfältigt und verbreitet zu haben, darunter auch gesellschaftskritische Stücke wie „Guerilla Radio“ der Gruppe Rage against the Machine. Ob die Revolutionspopstars mit dem Vorgehen ihres Labels einverstanden sind, wurde nicht überliefert. Es bleibt für Kontinentaleuropäer aber ohnehin oft rätselhaft, wie in den USA auch der Kampf gegen das wie auch immer definierte System selbst Bestandteil des Systems ist.
Für den Professor aus Harvard steht der Fall exemplarisch für eine Konfrontation des Verbandes der Musikindustrie RIAA und den Studierenden, die in den USA momentan die Hauptzielgruppe der Verfolgung illegaler Vervielfältigungen darstellen. Er vertritt den Standpunkt, dass der betroffene Student einfach das tat, was alle Studierende im Internet tun. Es handelt sich demnach nicht etwa um eine gewerbsmäßige Anmaßung fremder Kopierrechte, sondern um eine alltägliche Verhaltensweise auf dem Campus.
Es ist schwer, dem zu widersprechen. Natürlich lässt sich argumentieren, dass etwas Falsches nicht dadurch richtig wird, wenn alle es tun. Aber wenn ein Regelsystem derart offen und intensiv durchbrochen wird, sollte man sich durchaus einmal unvoreingenommen fragen dürfen, ob das Regelsystem der Situation noch angemessen ist. Lautet die Antwort: ja, dann muss man den schweren Weg gehen und die Situation konsequent in die gewünschte Ordnung biegen. Im Fall der Nutzung digitaler Inhalte scheint aber die Tendenz deutlich in eine andere Richtung zu weisen.
Das, was alle tun, nur anders
Eigentlich ist Filesharing heute das, was gestern das Verborgen von Comic-Heften, CDs und VHS-Kassetten war. Nur mit dem Vorteil (für den, der verborgt), dass ihm das Objekt nicht abhanden kommen kann, weil man sich aus den Augen verliert, in eine andere Stadt zieht oder ein Wasserschaden das Objekt unbrauchbar macht. Denn a) gibt es für die ersten beiden Fälle Facebook und b) behält man für den dritten Fall die eigene Kopie. In der digitalen Verbreitungspraxis liegt auch ein Vorteil für die Strafverfolgung: Wie jede Handlung im Internet hinterlassen Uploads und Downloads Spuren, die nicht jeder zu verwischen versteht. Technisch war es somit sogar möglich, exakt nachzuweisen, welche dreißig Songs Joel Tenenbaum kopiert und weitergegeben hat und vermutlich musste man dafür nicht einmal in seine Wohnung gehen. Auf der Kenntnis dieser Titelliste lässt sich dann eine Anklage aufbauen.
Die Selbstverständlichkeit des Filesharings als Alltagshandlung unterstreicht im Artikel der New York Times auch Daniel Gervais von der Vanderbilt University in Nashville: „File sharing is the way music is accessed today.“
Allerdings nicht der einzige Weg: Es gibt Konzerte, es gibt immer noch Tonträger, es gibt Streaming-Dienste, die Musik abspielen, aber nicht zum Nutzer-kontrollierten Download anbieten, und noch einiges mehr. Filesharing ist sicherlich eine zentrale Form. Daneben finden sich jedoch andere.
Aufmerksamkeit ist die Währung 2.0
Sicher ist, dass viele der Abermillionen Dateien auf den iPods dieser Welt schlicht nicht vorhanden wären, hätten die Hörer für jeden Titel bezahlen müssen. Die umfassende Konsumteilhabe an der Vielfalt der verfügbaren Musik wäre selbst bei niedrigsten Kosten pro Datei nicht im aktuellen Umfang möglich. Dazu drängt zu viel Musik zu schnell auf den Markt, dessen neuer Flaschenhals nicht mehr Portemonnaie, sondern Zuhörzeit (also: Aufmerksamkeit bzw. Nutzungszeit) heißt.
Ein Künstler, der Wert auf Publikum legt, wird zwangsläufig sein Publikum erreichen wollen. Dass die absolute Kontrolle über das Werk verloren geht, ist der Preis für die Präsenz im digitalen Raum. Obendrein lässt sich überlegen, ob Schwarzpressungen nicht sogar einen stärkeren Kontrollverlust darstellten, als es die theoretisch ermittelbaren Download-Zugriffe im Internet mit sich bringen. Letztlich ist es wie mit jeder Veröffentlichung: Nach der Publikation ist eine Kontrolle über die Nutzung des veröffentlichten Inhalts nicht mehr möglich.
Man entdeckt eine wachsende Anzahl von Produzenten, die das erkannt haben und zwar ein berechtigtes Interesse an der Anerkennung ihrer Urheberschaft hegen, aber bewusst die niedrigschwellige Vervielfältigungspraxis im Internet hinnehmen und teilweise sogar einkalkulieren. Dahinter steht die Erwartung, dass die entgangenen Einnahmen pro Kopie über andere Ertragsformen auszugleichen.
Die einfachste Variante basiert auf der Annahme, dass ein bekannterer Künstler eine größere Fanschar anzieht, die wiederum bereit ist, höhere Eintrittspreise für Konzerte zu zahlen. Dort nimmt sie als Erinnerung an das Erlebnis im Idealfall eben doch den physischen Tonträger oder das T-Shirt zur Tour mit. Auch der Gegenstand „Tonträger“ als Geschenk kann eine Rolle spielen: Denn weitaus stärker als mit einem Download zeigt man einem Beschenkten sein Wohlwollen (bzw. drängt das Präsent in dessen Wahrnehmung), wenn es sich um einen fassbares Objekt handelt. Um es verschenken zu wollen, muss man aber überzeugt sein und ergo wissen, worum es sich handelt.
Dennoch dürfte das traditionelle Modell der angestrebten vollen Rechtekontrolle durch die Rechteinhaber noch eine Weile als Standard gelten. Die Prosumer-Kultur, wie man sie zum Beispiel bei YouTube vorfühlen kann und wie sie auch an anderen Stellen existiert, könnte aber perspektivisch durchaus zu Verschiebungen führen. Noch ein anderer Punkt ist entscheidend: Es geht bei der Nutzung nicht um das Urheberrecht im strengen Sinn, sondern um die Verwertungs- und Verbreitungsrechte.
Der normale Filesharer möchte aber gerade die Musik eines bestimmten Künstlers hören. Gerade die Konsumpraxis der trendbewussten Zielgruppe, die jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit von Verbänden wie der RIAA steht, beruht auf der bedingungslosen Anerkennung des Urhebers und seiner Urheberschaft, da diese Zuordnung den sozialen Status der konkreten Schöpfung anzeigt. Der Name des Künstlers wirkt an dieser Stelle als Signum für die Coolness oder Altbackenheit eines Inhalts. Dass man ihn nicht unbedingt wirtschaftlich unterstützt, wenn man seine Musik nicht kauft, sondern sich gratis kopiert, ist zunächst ein Verwertungsproblem, keines der Wertschätzung.
Der Filesharer handelt streng rational – er besorgt sich das Gewünschte zum niedrigsten Preis – und agiert obendrein noch altruistisch in Bezug auf die ihm Gleichgesinnten im Rahmen eines auf Tausch basierenden Systems, das naturgemäß nicht auf finanziellen Ansprüchen aufbaut. Er tut dies zugegeben mit Objekten, die aus einer externen Quelle in dieses System eingespeist werden. Da jedoch kein realer Schaden unmittelbar sichtbar wird, fühlt sich der Tauschende bestenfalls bedingt moralisch im Unrecht.
Dies gilt vermutlich auch dem Künstler gegenüber. Der Konsument entlohnt ihn immerhin mit seiner Aufmerksamkeit. Dafür kann sich der eigentliche Schöpfer eines Werkes zwar unmittelbar nichts kaufen, aber der Wert der Popularität liegt immerhin in der Chance, diese mittelbar in tatsächliches Einkommen umsetzen zu können. Erstaunlicherweise scheint das Popularitätsmodell auch bei den Produzenten zu funktionieren. Labels, die die soziale Funktionsweise des Musikkonsums verstanden und eine feste Zielgruppe haben, verkaufen nämlich sowohl Downloads wie Tonträger in wirtschaftlich tragfähigem Umfang. Die Anhänger von Raster-Noton sammeln die Musik des Labels. Sie kaufen Musik und unterstützen das Label aus Überzeugung. Der Tanker Universal Music dürfte als Label überhaupt keine Anhänger haben. Entsprechend ist das schlechte Gewissen der Nutzer an dieser Stelle im Schnitt geringer.
Noch ein Beispiel: Der Erfolg des Labels Aggro-Berlin beruhte darauf, dass es konsequent seine Zielgruppe erkannte und das ganze Musiklabel als cool vermarktete. Alle Künstler unter diesem Dach galten für die Aggro-Klientel als gleichermaßen trendgemäß und daher konnte man auch gleich T-Shirt-Kollektionen, kistenweise Mixtapes und Sampler und volle Konzertsäle ausliefern. Ein Sony-Music-T-Shirt lässt sich dagegen wohl kaum verkaufen. Das Label muss hier im Hintergrund bleiben und hoffen, dass der Name des Künstlers zieht. Das Aggro-Label ist insofern auch ein interessantes Beispiel, als es sich zu dem Zeitpunkt auflöste, als seine Zielgruppe auf andere Trends überwechselte und das Image verbraucht war.
Große Labels scheinen diese Dynamik und die in ihr liegenden Chancen häufig zu verkennen. Sie verstehen zu wenig, dass sie in einer Symbolindustrie selbst Produkte sind oder sein können und dass die Konzeption des Labels selbst als sympathisches und attraktives Produkt neue Möglichkeiten zur Gestaltung von Ertragsmodellen ermöglicht.
Der Preis einer Idee
Zurück zum Text der New York Times und der Frage nach dem Copyright. Georg Nesson vertritt dort die doch recht nachvollziehbare Position, dass es im Internet zu einem Wandel von Verhaltensweisen kommt, denen die Rechtssprechung ebenfalls durch Anpassung Rechnung tragen muss. Daher ist für ihn das Vorgehen der RIAA nicht angemessen, wohl aber ein Anzeichen dafür, dass die Copyright-Gesetzgebung in Bezug auf das Internet und die Internetnutzung überholt ist.
Das Bostoner Gericht ließ sich offensichtlich von solchen Argumenten wenig beeindrucken und beurteilte das Verhalten des Studenten als unzweifelhaft mutwilligen Urheberrechtsverstoß. Das Urteil: Joel Tenenbaum soll pro Titel 22.500 US-Dollar zahlen – insgesamt also 675.000 Dollar. Allerdings geht die Verteidigung in die nächste Instanz und wenn es sein muss, so Nesson, bis vor den Supreme Court. Dabei blieb das Gericht in Boston mit dem Strafmaß weit unter den möglichen 150.000 Dollar pro Titel, die das U.S. Copyright Act als Deckelbetrag festlegt.
Es ist verständlich, dass solche Summen allgemein als ungehörig hoch empfunden werden – nicht nur von Joel Tenenbaum, dem im Fall einer Verurteilung nur der Schritt in eine Privatinsolvenz bleibt. In einem anderen Filesharing-Prozess rechnete der Anwalt einer Angeklagten einmal nach und kam zu dem Ergebnis, dass sich die tatsächlichen Kosten für ein Musikstück auf dreieinhalb Dollar belaufen.
Das Signal der RIAA ist sehr deutlich. Denn dadurch, dass sie sich jemanden suchte, der ausgerechnet die dreißig Titel tauschte, die wahrscheinlich drei Viertel der US-Studierenden irgendwo auf ihren Rechnern liegen haben, versucht man ein Exempel zu statuieren: „Seht her, es kann jeden von euch treffen! Und ihr könnt es euch nicht leisten!“ Sie geht also klar davon aus, dass ihr Verständnis der Systemregeln nach wie vor valide ist und einer harten Durchsetzung bedarf. Dem Gericht in Boston scheint es ebenso zu gehen.
Dennoch bleibt das spannende und bisher ungeklärte Problem, wie man den Geldwert eines virtuellen Objekts – das geistiges Eigentum nun mal ist – berechnet. Nazanin Lankari zitiert Frédéric Pollaud-Dulian zwar passend mit den schlichten Worten „The work of an artist has monetary value. Being a musician is not a hobby.”
Die Aussage ist aber wenig hilfreich, unfruchtbar pauschal und ignoriert obendrein nonchalant die Tatsache, dass im Internet die Grenzen zwischen Freizeitaktivität und professionellem Handeln durchaus verschwimmen, auch wenn der Begriff „Digitale Bohème“ etablierten Kulturproduzenten und Medienarbeitern meist nur ein müdes, etwas überhebliches Lächeln zu entlocken scheint. Wenn Joel Tenenbaum nun 22.500 US-Dollar für Becks Loser-Hymne zahlen soll, dann zahlt er für ein Lied, dass sich der nun mehr professionelle Künstler in seiner Zeit als obdachloser Gelegenheitsarbeiter in der Anti-Folk-Szene New Yorks ausdachte. Irgendwann hat das Universal Sublabel Geffen die Rechte am Titel erworben und nun sieht es so aus, als bestimmte die Tracklist Tenenbaums Schicksal…
Die Geschichte von Beck beweist obendrein, wo Pollaud-Dulians Verallgemeinerung ihren Schwachpunkt hat: Die Mehrzahl der mit Produkten auf dem Markt drängenden Künstler befinden sich dauerhaft in einem derart prekären Einkommenszustand, dass das Filesharing sie praktisch nicht weiter schädigen kann. Nur wenige fallen einem Musikmanager – warum auch immer – auf und wechseln die Kaste. Damit werden sie gleichermaßen für Musiktauschgruppen im Netz wie auch für solche Gerichtsverfahren interessant.
Ohne zynisch klingen zu wollen: Für einen großen Teil der real existierenden Musiker, gerade rechts und links des Mainstreams, dürften sich nur wenige interessierte Filesharer finden. Für diese Gruppe ist die Musik zwangsläufig „Hobby“ oder – wenn sie Glück haben – querfinanziert. Das heißt nicht, dass sie rechtlos sind. Jedoch ist die Facette der illegalen Vervielfältigung zumeist nicht ihr dringlichstes Problem. Eher die der Aufmerksamkeit.
Die Kernfrage, wie denn der Geldwert einer geistigen Schöpfung adäquat zu berechnen sei, wird gerade auch dann relevant, wenn ein anderer Akteur, beispielsweise ein Rechteverwerter, von den Künstlern die Verbreitungs- und Verwertungsrechte übernimmt. Und wenn er sie bei Filesharern einklagt. Gerade wenn es um potentiell entstandene Schäden geht, scheint seine Festlegung hochproblematisch und nur schwer nachvollziehbar. Im Gegensatz zu den realen Produktionskosten der Manifestationen, die auch im digitalen Umfeld durchaus erheblich sein können, und den Vervielfältigungs- und Verbreitungskosten, die im digitalen Umfeld sehr gering sind – sieht man von dem oft wahnwitzigen Aufwand zur Verhinderung von Verbreitung und Vervielfältigung einmal ab –, lässt sich der Ideen- und Originalitätsgehalt eines Werkes schwer in Geld umrechnen.
Natürlich ist Nine Inch Nails „The Perfect Drug“ in bestimmten Kreisen eine Hymne. Aber wer vermag einzuschätzen, ob eine Kopie des Liedes objektiv 3,50, 22.000 oder 150.000 US-Dollar wert ist? Vielleicht der Markt? „The Perfect Drug“ schaffte es nur auf Platz 17 der Billboard Charts. Und das vor 12 Jahren. Aber bleibt der Wert eines Titels in der Zeit wertstabil? Nutzt er sich ab? Was passiert, wenn die Nachfrage wegbricht? Wie viele Tonträger werden weniger verkauft, seit das Stück in der Tauschplattform Napster auftauchte? Wie viele Downloads wurden nicht bezahlt, weil Joel Tenenbaum es irgendwo zum Gratis-Download anbot? Und – auch das – wie viele CD-Pressungen des Remix-Albums wurden verkauft, weil jemand das Lied im Internet gehört hatte und auf einmal davon begeistert war?
Der Markt bestimmt Summen, die hauptsächlich als soziales Konstrukt entstehen. Den Beck der Anti-Folk-Zeit konnte man in Clubs gratis spielen sehen. Heute kostet seine Unterschrift auf einem Loser-CD-Cover (ohne Tonträger) bei Ebay immerhin 75 Dollar (Startgebot). Ein von ihm handsigniertes MP3-File ist dagegen schon technisch unmöglich und entsprechend entfällt die Kategorie des per Autogramm authentifizierten Objekts im digitalen Umfeld. Was erwerben Fans also, wenn sie den Titel bei einem Konzert anhören, Textbooklets samt Unterschrift ersteigern oder eine Musikdatei herunterladen? Die Idee? Ihre Umsetzung? Ihre Abbildung? Und was davon ist wie viel wert? Und wie viel, wenn Beck irgendwann in den Köpfen der Allgemeinheit so präsent ist, wie heute, sagen wir, das Manfred-Ludwig-Sextett?
Der Wert einer Idee ist schwer zu bestimmen. Im Bereich der Popmusik und in den Listen der Dateimanager ist er den meisten Konsumenten ziemlich gleich. Sind physische Tonträger in irgendeiner Weise gekennzeichnet und schwanken deren Preise – je nach Inhalt, Angebot und Nachfrage – von gar nichts bis exorbitant, fällt es schwer unterschiedliche Preise für beliebig reproduzierbare digitale Inhalte zu vermitteln. Die Normierung des Transportformates muss zwangsläufig eine Normierung der Nutzungskosten zur Folge haben. Und die strebt dem Eindruck nach im Internet gegen Null. Wo kein Mangel besteht, ist die Balance aus Angebot und Nachfrage ausgehebelt. Die künstliche (technisch basierte) Erzeugung und Aufrechterhaltung von Mangel ist im Prinzip gescheitert. Rechtlich scheint sie noch möglich. Teile der aktuellen Debatte suchen jetzt mitunter fast hysterisch nach Gründen, warum sie noch notwendig ist. Nur legt die Realität des Internets selbst dem, der halbwegs gewillt ist, die althergebrachte Variante zu akzeptieren, manche Fallstricke.
Rana Nader von der Pariser Universität Panthéon-Assas wird im Artikel der New York Times mit dem Hinweis auf ein gewichtiges Problem zitiert: Das Herunterladen von Dateien ist derart einfach und es finden sich so viele freie Inhalte im Internet, dass viele nur schwer zwischen illegalen Downloads, freiem Streaming und Kopien im Freundeskreis zu unterscheiden vermögen. Selbst wer sich an das Gesetz zu halten versucht, stößt mitunter an dessen Grenze. Manchmal auch durch sie hindurch. Die einfachste Lösung wäre, auf Musik aus dem Internet zu verzichten. Also ein Anachronismus.
Das einfache Vervielfältigen und die Tatsache, dass Künstler, Labels, Händler und andere Akteure nicht zuletzt zu Werbezwecken bewusst mit dem Verkaufsparadigma brechen und Inhalte frei zur Verfügung stellen, macht die Situation für die Endnutzer also nicht übersichtlicher. Streaming-Dienste wie Last.fm, wo es unter anderem „The Perfect Drug“ als Gratis-Stream gibt, sind in der Wahrnehmung im Internet nur einen Klick von MP3-Suchmaschinen wie hypem.com entfernt, die wiederum zu kommerziellen Anbietern wie iTunes verweisen, aber auch zu Blogs mit rechtlich nicht immer ganz eindeutig geklärten MP3-Downloads. Im Oberflächendesign unterscheiden sich diese bestenfalls dadurch von kommerziellen Angeboten, dass sie auf ein weniger stromlinienförmiges Design setzen.
Aber auch darauf ist kein Verlass. Neben Angeboten, bei denen klar ersichtlich ist, ob es sich um die Webseite eines Labels oder die virtuelle Bucht von Piraten handelt, existieren zahllose Angebote, die auf den ersten Blick kaum in legal oder illegal, in Promotion-Plattform oder naives Fan-Sharing zu unterscheiden sind. Für eine Generation, die ohnehin nur noch wenig Bezug zu physisch begrenzten Ton- und Datenträgern hat und die ihren Medienkonsum weitgehend in der virtuellen Wolke Sozialer Netzwerke, E-Book-Depots und Hosting-Diensten strukturiert, dürfte es tatsächlich schwer sein, in einer Kopie etwas Unrechtes zu entdecken. Oder, wie Rana Nader es im Artikel formuliert: „When the product is digital, it does not feel like stealing.”
Flatrate-Modelle
Rein physisch wird ja auch niemand geschädigt. Und der virtuell entstandene Schaden ist, wie gesagt, schwer objektiv abzuschätzen. Dass die Vervielfältigung, im Gegensatz zum physischen Diebstahl, niemandem ein Objekt vorenthält, dürfte mittlerweile jeder erkannt haben. Denkt man an Aspekte wie die Langzeiterhaltung eines digitalen Objektes, ist sein permanentes Neukopieren eigentlich eine willkommene Maßnahme zur Existenzsicherung des Objekts. Aber, sofern Künstler, Label und Händler dabei keine Einnahmen generieren, gibt es auf den ersten Blick keine existenzsichernde für diese Beteiligten. Ein nicht verkaufter Download bedeutet weniger Umsatz und weniger Ausschüttung.
Unklar ist allerdings der Umfang, in dem Downloads nicht gekauft werden, weil Dateien unrechtmäßig herunterladbar sind. Relativ klar ist, dass ein Abrechnungsmodell, welches dem Verkaufsmodell von Gegenständen folgt, für digitale Objekte unpassend ist.
Im Gegensatz zu gegenständlichen Tonträgern haben Dateien nämlich den bekannten Nachteil, dass ihnen das buchstäblich Begreifbare fehlt. Eine wahrgenommene Inbesitznahme findet nicht statt. Die beliebige Reproduzierbarkeit führt geradewegs in ihre Entzauberung als Objekte. Sie werden für die Bewohner der westlichen Welt selbstverständliche Bestandteile des alltäglichen Lebens, vergleichbar zum elektrischen Strom, fließenden Wasser oder auch dem Telefonanschluss. Je mehr Musik man digital vermittelt hört, je alltäglicher eine vierstellige Titelanzahl in den Abspiellisten der Abspielgeräte wird, desto unsinniger erscheint die Vorstellung, man kaufe ein Objekt, wenn man einen Titel zur Tracklist hinzufügt.
Zweckmäßiger erscheinen tatsächlich Abonnement- oder Prepaid-Modelle, die die Musikstücke als verfügbare Gesamtmasse behandeln und zum Festpreis in bestimmten Kontingenten verfügbar machen. Wird das Kontingent überschritten, kommt die Nachzahlung. Wird das Kontingent unterschritten, die Erstattung. Eine Mediennutzung analog zur Heizkostenabrechnung – denn es fließen jeweils Ströme; einmal in Heißwasserform, das andere Mal als Daten.
Ein in diese Richtung weisender Versuch findet sich in den Arbeiten Daniel Gervais‘. Momentan erarbeitet mit Studierenden die Idee einer „global license fee“. Diese Variante einer Kulturflatrate würde vom Internet Service Provider eingezogen und über eine Art Verwertungsgesellschaft an die Künstler und/oder Rechteinhaber ausgeschüttet. Die Berechnungen gehen von einem Marktvolumen von zwanzig Milliarden Dollar für den Musikmarkt aus. Allerdings ist dies eine Rechnung mit vielen Unbekannten: Eine Zwangsgebühr würde, ähnlich der GEZ, auch die belasten, die keine dieser Angebote nutzen. Ebenso unklar ist die Durchsetzung auf globaler Ebene. Und schließlich würde, wie der französische Rechtswissenschaftler Frédéric Poulland-Dulian im selben Artikel zum Thema bemerkt, eine solche Flatrate die Kontrolle des Urhebers über seine Werke unterlaufen, da der Zugang dann offen und durch die Gebühr abgegolten wäre.
Die französische Variante
Während es in den USA also Überlegungen gibt, wie man für die alltägliche Praxis des Umgangs mit digitalen Musikinhalten ein halbwegs legales Unterfutter zusammenschütteln kann, folgt man in Frankreich eher traditionellen Vorstellungen der Verbreitung von Medieninhalten. Das Mittel der Wahl ist hier eine konsequente Anwendung des bestehenden Urheberrechts inklusive der strafrechtlichen Verfolgung von Zuwiderhandlungen. Man glaubt offensichtlich, dass man den Raubkopierern nur das Arbeitsmittel, also den Internetanschluss, nehmen muss und schon wäre das Problem eingedämmt.
Eine aktuelle Reihe von Gesetzentwürfen, Hadopi genannt, geht also davon aus, dass man den virtuellen Raum einfach abschließen kann, wie den Kellerraum einer Schwarzdruckerei. Man könnte es sogar, aber um den Preis, dass man auch die ansonsten begrüßten Vorteile der Internetökonomie gleichermaßen beschneidet.
Frédéric Poulland-Dulian wird dazu im Artikel der New York Times mit einer etwas holprigen Analogie zitiert:
„When you violate driving laws, your car is taken away […] If you do not abide by hunting rules, your rifle is taken away. To say that depriving a user of Internet access infringes on a fundamental right is pure fantasy.”
Nimmt man dies ernst, lässt sich auch formulieren: Jemand wird von der Postzustellung abgeschnitten, weil er sich etwas Illegales hat zuschicken lassen. Es ist klar, wie unsinnig das Unterfangen ist. Abgesehen davon, dass beim Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung der Entzug des Führerscheins, nicht jedoch des Autos droht, übersieht diese Position, so viele Kritiker, dass die Teilhabe am Internet in vielen Ländern nicht nur zunehmend Basis gesellschaftlicher, sondern eben auch wirtschaftlicher Teilhabe wird.
Der Leistungsschutz für den Wirtschaftszweig der Kulturindustrie – nicht der Kultur selbst – steht im Konflikt zum Entfaltungswillen anderer Wirtschaftszweige, die auf die intensive Nutzung des Internets setzen. Es ist nicht bekannt, inwieweit die französische Regierung diesen Konflikt bei der Beschlussfassung für die Hadopi-Gesetze berücksichtigte.
Im Vereinigten Königreich überlegt man derweil, ob sich nicht vielleicht die Übertragungsgeschwindigkeiten abbremsen lassen, so dass man noch seine E-Mails einsehen, aber beispielsweise keine Kinofilme mehr herunter- und heraufladen kann. Diese Variante dürfte auch bei den Internetzugangsanbietern eher auf Gegenliebe stoßen, da sie ihren Kundenstamm immerhin behalten. Es würde nicht überraschen, wenn das Modell der gebremsten Bandbreiten demnächst auch in Deutschland auf der Tagesordnung der Internetpolitik stünde.
Solch ein gemäßigter Kontrollansatz erwiese sich dann als Mittelweg, der die Transformation des Musik- bzw. Medienmarktes im digitalen Umfeld begleitet. Für physische Tonträger ändert sich übrigens vergleichsweise wenig: Der Käufer einer Langspielplatte bezahlt für die Materialisierung einer Idee. Die Idee selbst bleibt – hier wie dort – unbezahlbar und daher ohne Preis.
hadopi ist nicht so untaulich wie oben dargestellt, denn es ist eine münze mit 2 seiten:
1) der illegale download wird unterbunden
2) die privatkopie wird gestärkt, indem der kopierschutz für datenträger gesetzlich verboten (!) wird.
imho ein ausgewogener und interessanter ansatz.
Weiteres zum Fall Joel Tenenbaum gibt es diese Woche auch bei Wired: ‘Missed Opportunity’ In File Sharing Case? Don’t Believe It