LIBREAS.Library Ideas

Alle an Bord! Noa Aharony und die Notwendigkeit des „Web 2.0“ in den LIS-Curricula.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 10. Juli 2008

Anmerkungen zu:
Aharony, Noa (2008): Web 2.0 in U.S. LIS Schools: Are They Missing the Boat? In: Ariadne, H. 54.
Online verfügbar unter http://www.ariadne.ac.uk/issue54/aharony/

von Ben Kaden

In der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Ariadne erschien ein kleiner Beitrag des israelischen Informationswissenschaftlers Noa Aharony, in dem er die vorläufigen Ergebnisse einer Studie zu der Fragestellung, wie sehr das Thema „Web 2.0“ in den Curricula US-amerikanischer Bibliotheksschulen verankert ist, vorstellt. Nicht sehr, so das Ergebnis. Aber es sollte, so Prämisse wie Ergebnis. Und daraus ergibt sich auch ein wenig das Problem des Beitrags.

In Rückgriff auf den viel zitierten Kaliper-Report aus dem Jahr 2000 (hier das PDF) der den schönen, von der Aufbruchsstimmung ins 21ste Jahrhundert geprägten Titel „Educating Library and Information Science Professionals for a New Century“ trägt, werden drei der sechs im Report ermittelten Trends für das ausgehende letzte Jahrhundert herausgestellt:

  1. Es kommt zu einer Verschiebung von der Institution Bibliothek hin zum Phänomen „Information“ („from a library-focused model to an information-focused paradigm“)
    Der Report selbst spricht eher von einer Erweiterung der Ausrichtung („in addition..“, „broadening“), aber die Interpretation des Autors bleibt sicher im Rahmen des Möglichen und in jedem Fall in dem der Realität.
  2. Die Ausbildung wird inter-(bzw. multi-)disziplinärer und vor allem „User centered“.
  3. Informationstechnologie spielt eine zunehmende Rolle. Wichtig ist, laut Kaliper-Report, die Studierenden an der „cutting edge of
    existing and new technologies as they become available.“ auszubilden.

Die Trends Nummer 4 (Spezialisierung im Rahmen des Programms), Nummer 5 (Formale Flexibilität der Curricula, Fernstudium, etc.) und Nummer 6 (Diversifikation der Abschlüsse) spielen für das Thema keine vorrangige Rolle.

Wichtig ist für den Autor, dass die Bedeutung von Information („creating power and wealth“) auch in anderen Ausbildungsdisziplinen in den Mittelpunkt rückt. Die Folge ist, dass Absolventen aus dem LIS-Bereich nicht mehr erste Wahl („first pick“) bei der Besetzung von Stellen im Informationsbereich sind. Sie stehen also mit (Wirtschafts-)Informatikern oder Kommunikationswissenschaftlern in direkter Konkurrenz. Folgerichtig wurden die Curricula vieler LIS-Schulen, wie der Autor bemerkt, um Themen wie „the social context of information technology, changes in use and user behaviour, human-machine interaction and information technology, information economics, communication skills, information policy and information brokering“ erweitert.

Nun betritt das Web 2.0 und im Gefolge auch die „Library 2.0“ das Feld der Betrachtung und beide werden recht neutral definiert. Interessant ist dabei das Zitat von Tim Berners-Lee, der im erklärten Anliegen des Web 2.0 keinen wirklichen Unterschied zum WWW, wie es gedacht war, sieht. Im Originalinterview lautet die Passage folgendermaßen:

developerWorks: You know, with Web 2.0, a common explanation out there is Web 1.0 was about connecting computers and making information available; and Web 2 is about connecting people and facilitating new kinds of collaboration. Is that how you see Web
2.0?

Berners-Lee: Totallynot. Web 1.0 was all about connecting people. It was an interactive space, and I think Web 2.0 is, of course, a piece of jargon, nobody even knows what it means. If Web 2.0 for you is blogs and wikis, then that is people to people. But that was what the Web was supposed to be all along. And in fact, you know, this Web 2.0, quote, it means using the standards which have been produced by all these people working on Web 1.0. It means using the document object model, it means for HTML and SVG, and so on. It’s using HTTP, so it’s building stuff using the Web standards, plus JavaScript, of course. So Web 2.0, for some people, it means moving some of the thinking client side so making it more immediate, but the idea of the Web as interaction between people is really what the Web is. That was what it was designed to be as a collaborative space where people can interact.
(developerWorks Interviews: Tim Berners-Lee)

Diese bemerkenswerte Aussage wird zwar zur Kenntnis genommen, aber in Hinblick auf die Fragestellung der Untersuchung nicht weiter reflektiert.

Die Untersuchung selbst umfasst die Auswertung der über die jeweiligen Internetpräsenzen von 59 LIS-Schools vermittelten Lehrpläne sowie „emails to get further information“.

In the mail the respondents were asked whether their programme offered
a course on Web 2.0 and if so, they were asked to send syllabi.

Auf die direkte Kontaktaufnahme reagierten zwölf Adressaten (=20%), von denen eine Schule einen Kurs zum Thema „Web 2.0“ in Planung hatte und fünf weitere das Thema im Rahmen anderer Kurse aufgriffen. Über die Analyse der Internetangebote wurden nur sechs Schulen mit entsprechenden Themenstellungen im Curriculum ermittelt. Diese sind nicht deckungsgleich mit denen, die sich über das E-Mail-Verfahren als in der Lehre „Web 2.0“-orientiert zeigten, so dass sowohl die Webseiten-Auswertung wie auch – aufgrund des geringen Rücklaufs – die E-Mail-Auswertung keine gesicherten Ergebnisse darstellen. Feststellen lässt sich lediglich, dass nur sechs Schulen die Behandlung des Themas in der Lehre auf der Website explizierten und sechs Einrichtungen per E-Mail definitiv bestätigten, dass sie dieses Thema nicht als Gegenstand in die Lehre aufgenommen haben.
Entsprechend kann man sagen, dass in 10 % der untersuchten Einrichtungen zum Untersuchungszeitpunkt das Thema Web 2.0 keines in der Lehre war.
Bei 10 Einrichtungen (=17%) war dies entweder der Fall oder ausdrücklich geplant. Bleiben 43 Einrichtungen (bzw. 73%) für die keine definitive Aussage getroffen werden kann, da sich das Verfahren der Analyse der Internetangebote offensichtlich als nicht eindeutig erwiesen hat.

Insofern lässt sich die Aussage:

This preliminary survey indicates that LIS schools in the United States are not adequately prepared for the rapid changes in Web technology and use.

bestenfalls als Bauchgefühl anerkennen. Wissenschaftlich belegt ist sie nicht. Daran schließt der Autor mit der eher noch problematischeren Aussage:

It seems that the LIS programmes have not yet internalised the importance of the new, changing and dynamic innovations that are taking place in their environment.

an. Diese steht im Gegensatz zu den oben postulierten genannten Themenstellungen („social context of information technology,..“), die sich in ihrer Ausrichtung durchaus auf die technischen Innovationen in ihrem Umfeld beziehen. Unglücklicherweise setzt Noa Aharony technische Innovation sehr verkürzt mit dem Konzept bzw. Schlagwort „Web 2.0“ gleich, so dass alles, was dieses Label nicht trägt, in einem blinden Fleck verschwindet.

Er führt für die (angenommene) geringe Berücksichtigung des „Web 2.0“ in den Lehrplänen drei Interpretationen aus:

  1. Das „Web 2.0“ wird als „Hype“ wahrgenommen und deshalb als mehr oder weniger unwichtig ausgeklammert.
    [Auch wenn an anderer Stelle (Folie 18) der Debatte zum Thema „Bibliothek 2.0“ sogar behauptet wird, dass sich „viele Hypes stabilisieren“, so ist dies bei genauerer Betrachtung der Wortbedeutung – sechs von sieben Varianten des Dictionary.com Unabridged (v 1.1) sind eindeutig negativ bzw. bedeuten schlicht: Betrug; die halbwegs neutrale beschreibt so etwas wie freudige Erregung“ und ist in diesem Kontext eher nicht relevant – keineswegs erstrebenswert.]
  2. „Web 2.0“ wird eher technisch verstanden und daher dem Feld der Informatik („Computer Science“) überlassen.
  3. Als dritte Deutung wird sachlich völlig unbegründet angeführt: „LIS programme designers are not open to change and innovation.“ Hier werden die Bereitschaft zu Veränderung und Innovation mit dem Phänomen „Web 2.0“ kurzgeschlossen, ohne dass sich eine eine solche Behauptung stützende Argumentation wenigstens angedeutet findet.

Die Notwendigkeit zur Schulung in „Web 2.0“ ergibt sich für den Autor aus einer anderen Analyse, in der es um das Nutzungsverhalten von Web 2.0-typischen Anwendungen durch israelische LIS-Studenten ging:

The research findings show that the most popular Web 2.0 applications used by LIS students are wikis (89%), blogs (45%), followed by social networks (37%), flickr (20%), while the least popular is RSS (19%). From these results one may conclude that Israeli LIS students should be more exposed to Web 2.0 applications and their use.

Leider ist der Artikel noch „under review“, so dass nicht zu prüfen ist, welche Nutzungsintensität der Autor als zureichend empfinden würde.

Generell überrascht aber angesichts des ansonsten häufig angebrachten Stereotyps, dass die Net-Generation bzw. „Digital Natives“, aus denen sich die aktuellen LIS-Studierenden zu großen Teilen rekrutieren dürften, ganz selbstverständlichen mit entsprechenden Anwendungen des „Web 2.0“ umgehen können. Der Autor greift diese Annahme dagegen nicht auf, sondern unterstellt implizit, in dem er starken Ausbildungsbedarf sieht, dass dem nicht so ist. Der Darstellung hätte eine Diskussion dieser Spannung sicher gut getan.

OCLC wird als besonders innovativ herausgehoben, weil es den Worldcat in Facebook einbettet. Dies impliziert, dass die Nutzer – wie auch immer geschult – dort sind. Auch Blogleser tauchen als „potential users“ auf. Bibliotheksnutzer verwenden „wikis as a platform for book recommendations, cataloguing and tagging“. Woher können sie das? Und wenn die Zielgruppen diese Werkzeuge en passant beherrschen: Wie unterscheiden sie sich in ihrer Herkunft, Intelligenz, Motivation,etc. von den typischen Studierenden an den LIS-Schools? Wenn jedoch, was natürlich nahe liegt, die Studierenden und späteren Bibliothekare eine umfassendere Befähigung und ein weiter reichendes mediales Verständnis als die Nutzer besitzen sollen, wäre es dann nicht sinnvoller, zu fragen, welche Elemente jenseits der simplen „Web 2.0“-Funktionalitäten als Erweiterung der Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien vermittelt werden sollten?

Die Forderung „the different issues and applications of Web 2.0 [should] be thoroughly taught as a separate course in the LIS curriculum“ führt entsprechend eher in die falsche Richtung, nämlich zu einer Beschränkung der Perspektive auf eine bestimmte, aktuelle Facette, die zu vermitteln nur bedingt notwendig sein dürfte.

Das Hauptproblem des Ansatzes von Noa Aharony liegt m.E. aber darin, dass die Betrachtung keineswegs sach- bzw. auf den fachlichen Nutzen bezogen ist, sondern sich im Kern fast ausschließlich um die Positionierung des Faches in einem interdisziplinärem Konkurrenzkampf dreht:

“The crucial question is whether those LIS schools are not missing an opportunity to improve their professional image and standing.”

Die Frage ist also nicht, inwiefern die Diszplin das „Web 2.0“ begreifen muss, um entsprechend zugeschnittene Dienstleistungen für ihre Zielgruppen zu erbringen, d.h. ihre Aufgabe zu erfüllen, sondern wie man die LIS-Ausbildung möglichst gut aussehen lassen kann.
Damit schließt der Autor nahtlos an die wenig fruchtbare, dafür aber die Fachwelt sehr verunsichernde „Wir müssen mithalten“-Debatte aus „Library 2.0“-Umfeld an.

Dass die Ausstattung der „new generations of librarians with competencies and skills that fit a modern, dynamic and changing work environment“ unbedingt vom extrahierten und konzentrierten Einbetten des „Web 2.0“ in die Curricula abhängt und nicht im Rahmen eines größeren Deutungszusammenhangs, der z.B. auch Grundlagen der Datenbankadministration und die Geschichte der Veränderung medialer Repräsentationsformen von der Wandmalerei in der grotte Chauvet-Pont-d’Arc bis zum Chatdialog bei Habbo vermitteln könnte, also Aspekte, die man bei täglichen Facebook-Nutzung nicht unbedingt mitbekommt, wird leider nicht deutlich.

Die Tauglichkeit der Schlagwörter „Web 2.0“ und „Library 2.0“ wird leider ebenso, obwohl der Ansatzpunkt mit dem Hinweis auf Tim Berners-Lee schon auf dem Tisch liegt, nicht hinterfragt. Stattdessen malt man die Schimäre des Abgehängtseins von der Entwicklung – hier verhältnismäßig dezent – auf und reduziert die Frage „Warum Web 2.0“ am Ende in der Andeutung auf den rhetorischen Holzhammer des Kampfes um das Überleben der Institution:

It is important that novice librarians and information professionals recognise these applications and be able to apply them properly in their libraries and information centres in order to show their readers and users that they are still relevant and up to date in this changing, dynamic information world. [Hervorhebung von mir]

Aus solcher Unfähigkeit, die Institution „Bibliothek“, das Bibliothekswesen und die die Zukunft dieser Akteure in ihrem Umgebung konsequent zu transzendieren, könnten man ableiten, dass der Unwillen zur Veränderung eigentlich – und zwar etwas luhmannianisch formuliert als Unwillen zweiter Ordnung – gerade bei den besonders veränderungswütig Auftretenden zu finden ist. Aber das ist vielleicht einen Tick zu weit hergeholt. Es könnte auch einfach ein im Kern sehr pragmatisches Anpassungsstreben an den Zeitgeist dahinter stehen: Man möchte dabei sein und dabei auch noch als relevant anerkannt werden.

Andererseits: Wenn die Relevanz der „Institution Bibliothek“ tatsächlich am seidenen Schnürchen des „Web 2.0“ hängt, dann sollte man nicht allzu viel daran hängen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: